Anne Gracie
Stück entfernt, als es ihr bewusst wurde. Sie spürte es
einfach.
Sie tat so,
als fiele es ihr nicht auf, und sah in eine andere Richtung, weil sie nicht
wollte, dass ihre Blicke sich begegneten. In Gegenwart von Männern fühlte sie
sich unbehaglich in letzter Zeit. Sie blickte hinauf zum Himmel, in der
Hoffnung, ein Fleckchen Blau dort zu entdecken.
Es war
immer ein hoffnungsvolles Anzeichen, so ein Fleckchen Blau, doch an diesem Tag
war der Himmel genauso wie schon seit Wochen. Grau. Kalt und gnadenlos grau.
Sie hatte
vor, ihn – beide – zu ignorieren, als sie vorbeiritten, so als wären sie gar
nicht da. Sein Freund ritt tatsächlich weiter; er zwinkerte ihr kurz zu, grüßte
gut gelaunt den Kutscher und dann war er fort.
Er jedoch blieb, wurde langsamer und
lenkte sein Pferd so nah an das Fuhrwerk, dass sie den Geruch des Fells und des
feuchten Umhangs wahrnehmen konnte. Jetzt gelang es ihr nicht mehr, so zu tun,
als wäre er nicht da.
Seine Augen
waren so grau und düster wie der Himmel, doch sein Blick brannte.
Und dann
hatte er ihr seinen Hut gegeben.
Und sie
hatte ihn zum ersten Mal richtig angesehen. Das markante, vollkommene
Männergesicht mit der geraden, kühnen Nase und den schmalen geschwungenen
Lippen. Der Inbegriff männlicher Schönheit.
Es war
einer jener Momente gewesen, in denen die Zeit zum Stillstand zu kommen schien,
sich endlos ausdehnte und dann doch so schnell wieder vergangen war.
Der ganze
Austausch hatte vielleicht fünf Minuten gedauert. Er hatte ein paar Worte
gesagt, sie hatte überhaupt nicht gesprochen. Ausnahmsweise hatte ihre sonst
so flinke Zunge sie im Stich gelassen; Nell hatte keine Ahnung, warum. An der
Weggabelung hatte er ihr einen letzten glühenden Blick zugeworfen und dann war
er fort gewesen.
Sie war
sich nicht sicher, was sich zwischen ihnen eigentlich abgespielt hatte.
Eigentlich hatten nur ein Hut und ein Paar Handschuhe den Besitzer gewechselt,
Worte waren dabei kaum gefallen. Trotzdem würde sie dieses Gesicht und diese
seltsamen kühlen Augen, in denen doch so ein Feuer brannte, nie mehr vergessen.
Langsam
tauten ihre eiskalten Finger wieder auf. Die Handschuhe waren warm – warm
durch das Fellfutter und von der Wärme seiner großen, starken Hände. Und jetzt
wärmten sie Nells Hände.
Noch
weitaus mehr wärmten sie jedoch ihre verwundete Seele. Die Freundlichkeit eines
Fremden; unerwartet und unermesslich anrührend.
Nell hielt
sich an dem schwankenden Fuhrwerk fest und betrachtete ungeduldig die langsam
vorbeiziehende Landschaft. Mit jeder Meile kam sie ihr vertrauter vor, und sie
konnte es nicht mehr erwarten, nach Hause zu kommen. Sie musste irgendetwas
tun. Dieses langsame Reisen ließ ihr viel zu viel Zeit zum Nachdenken, Grübeln
und Trauern.
Sie hob den
Blick zu den mittlerweile fast kahlen Baumwipfeln vor dem grauen Himmel. Der
Winter kam. Die Welt um sie herum lag im Sterben.
Nein. Nein,
das stimmte nicht, niemand starb. Nur Papa war gestorben. Nur Papa. Das musste
sie allmählich akzeptieren.
Sie fuhr
nach Hause. Dort würde es ihr wieder gut gehen. Sie würde etwas Geld auftreiben
und nach London zurückkehren. Und dieses Mal würde sie sie finden, ihre Torie
...
Wo Leben
ist, gibt es auch Hoffnung, hieß es doch.
Rote und
goldgelbe Blätter schwebten zu Boden und versanken im Morast. Wie immer
brannten ihr die unbeantworteten Fragen auf der Seele.
Warum,
Papa, warum? Warum hast du mir nicht gesagt, was du vorhattest? Warum hast du
erst so getan, als glaubtest du mir, und dann im Geheimen doch anders
gehandelt?
Ausflüchte,
Lügen und Geheimnisse – immer schon, ihr ganzes Leben lang. Und jetzt, wo es so
sehr darauf ankam, dass sie etwas für sie Lebenswichtiges erfuhr, war es zu
spät. Die Antworten hatte
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