Anne Gracie
und zog am Türknauf.
„Sie ist
abgeschlossen, weißt du nicht mehr?“ Ihr seltsames Verhalten verwirrte und
beunruhigte ihn.
„Muss sie
finden“, stammelte sie. „Finden.“
„Wen musst
du finden?“
Sie
rüttelte erneut am Türknauf, dann sagte sie irgendetwas, drehte sich um und
ging mit zügigen Schritten zum Fenster. Sie zog die Vorhänge auf. Helles
Mondlicht schien ins Zimmer, und in dem Moment sah Harry ihr Gesicht.
Ihre Augen
waren weit offen, wirkten aber völlig leer und ausdruckslos. Sie schlief. Sie
ging und redete, aber sie schlief fest.
„Nell.“
Sie versuchte, das Fenster zu öffnen. Oh Gott, sie wollte aus dem Fenster steigen!
Er hielt sie am Arm fest. „Nell!“, wiederholte er drängender. „Nell, wach
auf!“ Er wollte sie schon wachrütteln, da fiel ihm die Geschichte von
einem Mann ein, den man während seines Schlafwandelns geweckt hatte und der daraufhin
vor Schreck tot umgefallen war. Er wusste nicht, ob diese Geschichte wahr war,
aber er wollte lieber nichts riskieren.
„Muss sie
finden, sie finden. Torie finden“, murmelte sie und rüttelte am
Fenstergriff.
Plötzlich
verstand er und er sagte das Erstbeste, das ihm einfiel. „Torie ist in
Sicherheit. Sie ist hier.“
Sofort
drehte sie sich zu ihm um. Ihre Miene war bang und in ihrem Blick lag immer
noch diese entsetzliche Leere. Es war ein herzzerreißender Anblick. Er hob sie
auf seine Arme.
„Torie
schläft, es geht ihr gut“, tröstete er sie und ihr besorgter
Gesichtsausdruck verschwand allmählich. Unentwegt beschwichtigend auf sie
einredend trug er Nell zurück in ihr Zimmer und in ihr Bett. „Torie schläft,
und du musst jetzt auch schlafen.“ Vertrauensvoll wie ein Kind kuschelte
sie sich in ihr Bett und er deckte sie zu.
Leise
schloss er ihre Zimmertür und lehnte sich erleichtert dagegen. Gott sei Dank
hatte er sie gehört. Der Himmel mochte wissen, was geschehen wäre, wenn sie aus
dem Fenster gestiegen wäre.
Er schenkte
sich einen großen Brandy ein und setzte sich in einen der Sessel im Wohnzimmer.
Er hatte schon von Schlafwandlern gehört, aber noch nie einen gesehen.
Er trank
einen Schluck von seinem Brandy. Als sie ihm das erste Mal von dem
Baby erzählt hatte, war ihm für einen Moment der Verdacht gekommen, sie könnte
es absichtlich „verloren“ haben. Der Moment hatte nur eine Sekunde
gedauert, dann hatte Harry den
unwürdigen Gedanken sofort wieder verbannt.
Jetzt
schämte er sich sogar, dass er überhaupt eine Sekunde lang so etwas
hatte glauben können. Nun kannte er auch den Grund für die dunklen Ringe unter
ihren Augen. Der Verlust ihrer Tochter zerriss
sie innerlich, sogar im Schlaf.
Er leerte
sein Glas und stellte es ab. Hoffentlich fanden sie das Baby
schnell. Er kehrte zurück in sein Zimmer, doch als er gerade seine Bettdecke
zurückschlagen wollte, hörte er, wie wieder eine Tür
aufging.
Es war
Nell, die sich immer noch schlafend erneut auf den Weg zur Tür
nach draußen machte. Harry hatte nicht vor, das Ganze noch einmal
mitzuerleben.
Mit drei
Schritten war er bei ihr und führte sie sanft in sein Zimmer. „Torie
ist in Sicherheit“, raunte er. „Und jetzt geh zu Bett.“ Wie zuvor
gehorchte sie und legte sich ins Bett. In sein Bett. Er schlüpfte neben ihr
unter die Decke. „Komm, Liebes. Bei Harry bist du jetzt geborgen. Torie kann
nichts mehr passieren, Nell auch nicht.
Jetzt wird geschlafen.“
Sie seufzte
und ihre Anspannung ließ nach. Ihre Hände und Füße waren
eiskalt. Harry zog Nell in seine Arme, um sie zu wärmen. Er merkte, wie die
Kälte ganz langsam aus ihren Gliedern wich und ihr Atem ruhiger ging. Ihr
Nachthemd war aus Leinen, alt und weich vom vielen Waschen. Es war so dünn,
dass er fast das Gefühl hatte, sie nackt im Arm zu halten. Sie duftete nach sauberem
Leinen und Seife, und sein
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