Anne Gracie
war
dort sehr einsam“, erwiderte sie und ihr Tonfall veränderte sich. „Papa
ließ mich bei wildfremden Leuten zurück, sie kannten nicht einmal meinen
richtigen Namen, seinen auch nicht. Er bezahlte sie dafür, freundlich zu mir zu
sein.“
„Und? Waren
sie freundlich?“
„Oh ja, auf
ihre Weise schon, denke ich. Aber ich war unglücklich. Ich durfte nicht einmal
Aggie mitnehmen, nur Freckles. Trotzdem durfte ich nie nach draußen, auch
nicht, um mit Freckles spazieren zu gehen. Erst nach Einbruch der
Dunkelheit.“
„Warum?“
„Papa hatte
strikte Anweisungen hinterlassen.“ Sie schüttelte hilflos den Kopf.
„Menschen hätten mich sehen, mich erkennen können – ich weiß es nicht. Dort gab
es noch nicht einmal einen richtigen Garten. Ich fühlte mich wie in einem
Gefängnis.“
Dieser Teil
ihrer Geschichte war wahr, das spürte er. Hier ging es jetzt ausschließlich um
Gefühle, hier leierte sie nicht nur einfach Tatsachen herunter. „Was hast du
die ganze Zeit gemacht?“
„Ich habe
viel gelesen und genäht – Nähen hat mich vorher nie interessiert. Und gestrickt
habe ich, aber ich war nicht sehr gut darin. Trotzdem half es, mir die Zeit zu
vertreiben bis zur Geburt meines Kindes. Meine Tochter, meine kleine
Torie.“ Sie fing leise an zu weinen. „Ich liebte sie so sehr. Ich dachte,
ich würde sie behalten, doch dann wurde ich krank ... und mein Vater kam
...“
Harry hielt
sich so lange zurück, wie er konnte – ungefähr drei Sekunden lang –, dann zog
er sie in seine Arme. „Wir werden sie finden, keine Sorge.“
Sie murmelte
etwas Unverständliches. Er drückte sie an sich, streichelte ihr Haar und rieb
ihren Rücken. Stumme Schluchzer schüttelten
sie. Ihm fiel ein, was sie an jenem ersten Tag in Firmin Court gesagt hatte. Ich
weine nie. Es ist sinnlos.
Harry
hasste es, mit anhören zu müssen, wenn Frauen weinten. Mit anzusehen, wie Nell
gegen ihr Schluchzen ankämpfte, hasste er noch mehr. „Lass deinen Tränen
einfach freien Lauf und wein dich aus“, sagte er. „Du hast allen Grund
dazu.“
„Ich will
nicht weinen. Ich weine nicht“, gab sie erstickt zurück. „Meine Tochter
lebt, das weiß ich. Und ich werde sie finden.“
„Wir werden
sie finden, das verspreche ich dir.“ Er hielt sie fest im Arm und fragte
sich, was er da eigentlich tat – ihr so etwas zu versprechen, obwohl er tief im
Innern glaubte, dass das Kind wahrscheinlich tot war.
Babys
starben so leicht. Neugeborene, die ihren Müttern weggenommen wurden, hatten
sogar noch geringere Überlebenschancen. Und wenn Papa seine ungewollte
uneheliche Enkelin wirklich hatte loswerden wollen, dann war das sicher nicht
allzu schwierig gewesen. Menschen taten so etwas oft.
Sie
erreichten die nächste Poststation, und während die Pferde und die Postillione
ausgewechselt wurden, ging Nell in das Gasthaus und wusch sich das Gesicht.
Blass, aber gefasst kam sie zurück. Harry beobachtete sie unglücklich. Noch
immer kannte er nicht die ganze Geschichte – da waren immer noch Lücken, die
keinen Sinn ergaben –, aber Nell war emotional zu erschöpft, er wollte sie
jetzt nicht weiter ausfragen.
Er sah aus
dem Fenster und stellte fest, dass sie sich Cherrill näherten. „Hast du schon
einmal das berühmte weiße Pferd von Cherrill gesehen?“
„Nein“,
erwiderte sie matt.
„Gleich
kannst du es sehen. Es ist eine bekannte Sehenswürdigkeit in dieser Gegend.“
Nach der
nächsten Wegbiegung kam es wie angekündigt in Sicht. Harry erinnerte sich noch
daran, wie er es als Junge zum ersten Mal gesehen hatte. Er war ganz begeistert
gewesen von der riesigen weißen Pferdestatue auf dem grünen Rasen.
„Es heißt,
allein der Schweif ist mehr als zehn Meter lang“, erklärte er.
„Erstaunlich“,
murmelte sie
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