Anne Gracie
Errötend und viel zu spät
wandte sie den Blick ab. „Warum hast du mich nicht in mein eigenes Bett
gebracht?“, fragte sie.
„Das habe
ich getan.“
„Wie
bitte?“ Sie wandte ihm wieder das Gesicht zu. „Warum bin ich dann in
deinem Bett aufgewacht?“ Ihr Blick verirrte sich erneut zu seiner
Unterhose.
„Nicht
deswegen. Als du das erste Mal schlafgewandelt bist, habe ich dich in dein Bett
gebracht und mir nichts mehr weiter dabei gedacht. Zehn Minuten später warst du
schon wieder auf und wolltest aus dem Fenster klettern. Ich konnte mir also entweder
die Nacht um die Ohren schlagen und hinter dir herlaufen oder dich in mein Bett
bringen und für deine Sicherheit sorgen.“
„Für meine
Sicherheit?“
„Genau“,
bestätigte er. „Und dafür, dass du ordentlich Schlaf bekommst. Du hast besser
geschlafen, nicht wahr? Du siehst heute Morgen ausgeruhter aus als in den
vergangenen Tagen.“
Sie
überlegte. Sie fühlte sich tatsächlich zum ersten Mal seit geraumer Zeit etwas
weniger ausgelaugt. „Das habe ich wohl.“
Er nickte.
„Gut. Dann ist mein Plan ja wunderbar aufgegangen ... bis du wach geworden
bist und um dich geschlagen hast.“
Sie verzog
reumütig das Gesicht. „Es tut mir leid. Mir war nicht bewusst, dass du es
warst.“
Er runzelte
die Stirn. „Ich weiß. Wer ist also der Schurke, mit dem du mich verwechselt
hast?“
Nell hatte
nicht vor, ihm das zu verraten; nicht ihm, keiner Menschenseele. Sie sprang
auf. „Es ist schon spät. Die Bediensteten können jeden Moment aufstehen. Ich
gehe lieber zurück in mein Zimmer.“
„Er hat dir
Gewalt angetan, nicht wahr? Der Vater deines Kindes.“ Er sah sie aus
grauen Augen eindringlich an.
Sie
erstarrte; in ihrem Kopf herrschte plötzlich völlige Leere.
„Deswegen
bist du eben so voller Panik aufgewacht“, fuhr er fort.
„Nein, ich
...“
„Du bist in
Panik geraten, als du dachtest, ein Mann läge in deinem Bett, doch sobald du
mich erkannt hast, bist du sofort ruhiger geworden.“ Er verzog den Mund.
„Obwohl du durchaus Grund haben könntest, Angst vor mir zu haben – in meinem gegenwärtigen
Zustand.“
Sie biss
sich auf die Lippe. Er durfte es nicht wissen, auf keinen Fall. Und sie würde
es ihm nicht erzählen, niemandem. Außerdem hatte sie keine Angst vor Sir Irwin
– sie hasste ihn. Sie hatte sich eben nur erschrocken, das war alles. Dadurch
waren die Erinnerungen wieder geweckt worden. Doch sie hatte sie schon vorher
aus ihrem Kopf verbannen können, und das würde ihr erneut gelingen.
Sie würde
nicht zulassen, dass Sir Irwin irgendeine Rolle in ihrem Leben spielte. Nicht
einmal als eine böse Erinnerung. Oder als Albtraum.
Harry blieb
jedoch hartnäckig. „Deswegen hat dir dein Vater das Kind in jener Nacht
weggenommen. Er glaubte, er täte das Richtige
für dich, indem er alles ungeschehen machte. Indem er dich von der Bürde
befreite, das Kind eines Vergewaltigers großziehen zu müssen.“
„Sie ist nicht das Kind eines Vergewaltigers. Sag nie wieder etwas so Schmutziges
über meine Tochter!“, brauste Nell auf. „Sie gehört mir, mir ganz allein
und niemandem sonst! Meine Tochter, mein geliebtes, reines und
unschuldiges Kind.“ Damit rannte sie aus dem Zimmer.
Sie war
vergewaltigt
worden. Wieder und wieder gingen Harry diese Worte durch den Kopf. Natürlich
war sie das, nun ergab alles einen Sinn. Wer war das Scheusal? Wie war es dazu
gekommen? Fragen über Fragen.
Bei der
Erinnerung an ihre erste Begegnung wurde ihm plötzlich schlecht.
Großer Gott!
Kein Wunder, dass sie in Bath nichts von ihm hatte wissen wollen. Warum sollte
sie auch einen Mann näher kennenlernen wollen, der ihr gleich bei ihrer ersten
Begegnung einen Kuss aufgezwungen hatte? Einen sehr wollüstigen Kuss noch dazu.
Er schloss
die Augen und
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