Anne Gracie
fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Was war damals bloß in ihn
gefahren? Noch nie im Leben hatte er auch nur annähernd so etwas getan. Er
hatte Frauen immer mit dem allergrößten Respekt behandelt. Doch ausgerechnet
bei der unwiderstehlichsten Frau, die er je kennengelernt hatte, hatte er sich
wie ein Grobian aufgeführt.
Ihr war auf
die denkbar schlimmste Art Gewalt angetan worden ...
Und dann
hatte er sie auch noch in eine Situation gebracht, in der sie gezwungen war,
ihn zu heiraten.
Gott, wie
sehr musste sie ihn verachten. Er fluchte und hieb auf die Matratze.
10. Kapitel
Ich werde heute Morgen mit Nell in der
Postkutsche fahren“, verkündete Lady Gosforth beim Frühstück. „Du kannst
dein Pferd reiten, Harry. Ich möchte mich mit meiner zukünftigen Nichte unter
vier Augen unterhalten.“
Nell
schluckte. Ob Lady Gosforth herausgefunden hatte, wo sie die letzte Nacht
verbracht hatte? Würde man ihr jetzt eine Moralpredigt halten? Sie sah
verstohlen zu Harry hinüber. In seinen Augen stand noch immer die Frage, die
sie ihm am Morgen nicht beantwortet hatte.
Andererseits
war eine Moralpredigt einem Verhör vielleicht vorzuziehen. Schließlich hatte
sie ja nichts Falsches getan.
„Das wäre
reizend“, erwiderte Nell munter. „Ich bin mir sicher, Harry wird einen
schnellen Galopp genießen. Er hat ihn jetzt auch nötig.“ Sie hoffte, er
hatte die Anspielung verstanden. Sie sah ihn nicht an, sondern konzentrierte
sich darauf, eine Scheibe Toast mit Butter zu bestreichen. Eigentlich hatte sie
gar keinen Appetit, aß aber trotzdem. Immer noch besser, als sich diesem
messerscharfen Blick über den Tisch hinweg auszusetzen.
„Ausgezeichnet“,
sagte Lady Gosforth. „Dann werden wir Damen einen angenehmen Plausch
halten.“
Harry half
erst seiner Tante, dann Nell in die Postkutsche, wobei er Nell einen
bedauernden Blick zuwarf. „Sie redet ununterbrochen“, murmelte er.
Nell wäre
das sehr recht gewesen. Sie hatte mehr Angst davor, über sich selbst sprechen
zu müssen. Wahrscheinlich wollte Lady Gosforth sie genau wie ihr Neffe
ausfragen, nur würde sie dabei weit weniger tolerant sein, dessen war Nell sich
sicher.
„Meinen
Korb!“, verlangte Lady Gosforth energisch, als Harry gerade die Tür
schließen wollte. Bragge, ihre Zofe, reichte einen großen, abgedeckten
Weidenkorb in die Kutsche.
Nell
starrte auf den Korb, und ihr wurde ein wenig übel. In genau so einem Korb
hatte Papa Torie weggebracht, nur ohne diesen Deckel ... Es war lächerlich,
doch einen Moment lang konnte Nell kaum atmen.
Lady
Gosforth stellte den Korb neben sich auf den Sitz und klappte den Deckel hoch.
Der Korb war mit blauer Baumwolle ausgekleidet, nicht mit weißem Satin, und
enthielt Dutzende Stränge feiner weißer Wolle.
Nell fing
wieder an zu atmen.
„Ich
stricke“, erklärte Lady Gosforth. „Das ist unmodern, ich weiß, aber es ist
nützlich und entspannt mich. Ich hasse Stickereien und ähnlichen Unsinn. Ich
möchte etwas herstellen, das man auch benutzen kann.“
Nell
nickte, obwohl sie nur mit halbem Ohr zugehört hatte. Nur noch ein Tag, dann
würden sie in London sein. Morgen früh ...
Die Kutsche
setzte sich mit einem Ruck in Bewegung und Lady Gosforth holte einen dicken
Strang Wolle aus dem Korb. „Sie haben doch nichts dagegen?“, fragte sie
Nell und beugte sich vor.
„Ganz und
gar nicht.“
„Schieben Sie
Ihre Hände in die Mitte des Strangs – sehen Sie? Er ist wie eine große
Schlinge. Jetzt breiten Sie die Hände zur Seite aus – ja,
genau so. Ich sehe, das haben Sie schon einmal gemacht.“
Nell
nickte. „Ja, aber schon seit Jahren nicht mehr.“ Sie hatte mit Aggie Wolle
gewickelt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, doch als Aggies
Finger steif
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