Anne Gracie
Schule verwiesen. Meine Tante war damals unpässlich und bat mich,
mich um die Jungs zu kümmern. Ich war entsetzt, ich wollte mit keinem der
beiden etwas zu tun haben.“ Sie lächelte bei der Erinnerung. „Doch wenn
ich sage ‚Sie bat mich‘, war es im Grunde eher ein Befehl. Sie war eine ziemliche
Tyrannin, meine Tante Gertie, und in meinen jüngeren Jahren hatte ich viel zu
viel Angst vor ihr, um ihr nicht zu gehorchen.“
Das scheint
in der Familie zu liegen, dachte Nell ironisch.
„Als ich
die beiden Jungen sah, wusste ich natürlich, dass sich mein Bruder in Bezug auf
Gabriel geirrt hatte. Beide haben das außergewöhnlich gute Aussehen ihres
Vaters geerbt – es ist sogar eine Ironie des Schicksals, dass sie ihrem Vater
sehr viel ähnlicher sehen als die beiden älteren Brüder. Gabriel und Harry
sehen fast gleich aus, nur dass Gabriel die blauen Augen und das dunklere Haar
seiner Mutter geerbt hat. Harry hingegen hat die gleichen grauen Augen wie mein
verstorbener Bruder. Marcus, der jetzige Earl, hat auch solche Augen.“ Sie
erschauerte. „Sie können ausgesprochen kalt wirken.“
Sie können
aber auch vor Leidenschaft glühen, dachte Nell und erschauerte ebenfalls, aber
aus einem anderen Grund, denn sie dachte dabei an Harry, nicht an Marcus.
„Ich
erinnere mich noch, wie die beiden vor meiner Tür standen, zwei
fast gleich aussehende kleine Jungen, zerzaust und voller blauer Flecke, steif
und misstrauisch. Ich beschloss sofort, Gabriel aufzunehmen,
er war immerhin ein echter Renfrew; aber ich hatte nicht vor,
mich um das uneheliche Kind einer Bediensteten zu kümmern, und das sagte ich
den beiden auch. Ich forderte Gabriel auf, hereinzukommen
– ich hatte keine Ahnung, wer von beiden wer war –, und sagte, der andere
könnte zum Hintereingang gehen, die
Bediensteten würden sich um ihn kümmern. Er dürfte bleiben, solange er sich
nützlich machte.“
Nell
bemühte sich, sich nichts von ihrer Betroffenheit anmerken zu lassen. Das Ganze
klang sehr grausam, aber ihr war klar, dass Lady
Gosforth nach landläufiger Ansicht nur so gehandelt hatte, wie es standesüblich
war. Die meisten Leute ihrer Klasse hätten wohl ähnlich gedacht.
Sie würde
es nicht ertragen können, wenn jemand Torie so behandelte.
„Ich weiß,
dass das unfreundlich war“, fuhr Lady Gosforth reumütig fort, „aber ich
konnte mir damals einfach nicht vorstellen, dass er Gefühle hatte. Harry wich
zurück zur anderen Straßenseite, verschränkte mit finsterer Miene die Arme vor
der Brust und erklärte, er brauche niemanden, der sich um ihn kümmert. Gabriel
war natürlich wütend. Er stand vor mir auf der Treppe, fluchte und sagte, ohne
seinen Bruder ginge er nirgendwohin. Und wie jeder andere in seiner Familie
außer Großtante Gertie und Harry wäre ich ignorant, dumm und entsetzlich
versnobt. Und dann stürmte er über die Straße und stellte sich neben
Harry.“ Sie lachte unfroh. „Es regnete, habe ich das erwähnt? Die beiden
waren völlig durchnässt, aber sie bewegten sich nicht von der Stelle. Harry
wollte nicht dorthin gehen, wo er nicht erwünscht war, und Gabriel wollte
nirgend wohingehen ohne seinen Bruder. Irgendwann bekam ich Angst, sie könnten
krank werden und Tante Gertie würde mir Vorwürfe machen. Also teilte ich ihnen
mit, sie dürften beide zum Vordereingang hereinkommen. Gabriel brachte mich
dazu zu versprechen, seinen Bruder nicht wieder zu beleidigen. Dann musste ich
über die Straße gehen und Harry persönlich in mein Haus einladen. Ihm musste
ich dann versprechen, dass ich Gabriel nicht seine Loyalität zum Vorwurf machen
würde. Am Ende kam er mit, aber so widerstrebend, dass Sie es kaum glauben
würden.“
Nell
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