Anne Gracie
geworden waren, hatte sie aufgehört zu stricken.
„Jetzt muss
ich nur noch den Anfang finden – ach, da ist er ja.“ Zügig begann Lady
Gosforth den Wollfaden um ihre Finger zu wickeln, sodass ein kleines Knäuel
entstand. Nell senkte abwechselnd die eine Hand, dann die andere, damit sich
die Wolle vom Strang löste.
Eine ganze
Zeit lang schwiegen beide Frauen. Sie ließen Marlborough hinter sich und waren
schon bald wieder auf der Landstraße
unterwegs. Nell fand es eigentlich ganz angenehm, Wolle zu wickeln und
gleichzeitig die Landschaft vorbeiziehen zu sehen. „Wo sind Sie meinem Neffen
denn zum ersten Mal begegnet?“, wollte Lady Gosforth wissen.
Also doch
ein Verhör. „Genau genommen in einem Wald. Es regnete in Strömen, und er war
sehr freundlich zu mir“, erwiderte Nell. Sie wollte nicht erklären, was im
Wald geschehen war. An jenem Tag hatte sich etwas ganz Persönliches, beinahe
Magisches zwischen ihnen abgespielt, und darüber wollte sie nicht sprechen,
selbst wenn sie es in Worte hätte fassen können. Irgendwie hatte sie das
Gefühl, als würde sie den Moment zerstören, wenn sie darüber sprach. Im Grunde
war es ja auch nichts weiter gewesen, ein kleiner, unbedeutender Vorfall
zwischen zwei Fremden irgendwo auf einer Landstraße ... „Richtig kennengelernt
haben wir uns erst, als er zu mir nach Hause kam – wenigstens war es einmal
mein Zuhause. Firmin Court.“
„Als Harry
es gekauft hat?“
„Ja.“
„Und erst
da haben Sie sich kennengelernt?“ Lady Gosforth sah verwirrt aus.
„Richtig
kennengelernt, ja. In dem Sinn, dass wir uns unterhalten haben, meine
ich.“ Die wenigen Worte, die er im Wald mit ihr gewechselt hatte, konnte
man wohl kaum als Unterhaltung bezeichnen ...
„Und wann
sind Sie sich das nächste Mal begegnet?“
„In der
Trinkhalle in Bath. Sie waren ja ebenfalls dort“, erinnerte Nell
sie.
Lady
Gosforth ließ beinahe ihr Wollknäuel fallen. „Sie meinen, in der Trinkhalle
haben Sie sich zum zweiten Mal mit meinem Neffen unterhalten? Und es war das
dritte Mal, dass Sie sich begegnet sind?“
Nell
nickte.
„Gütiger
Gott!“ Sie wickelte eine ganze Weile stirnrunzelnd weiter. „Das hätte ich
nie gedacht. Drei Mal. Er sagte mir, er hätte Ihnen zuvor zwei Mal einen Heiratsantrag
gemacht und Sie hätten ihn beide Male abgewiesen.“
„Das ist
richtig.“
„Heißt das,
er hat Ihnen gleich bei Ihrer ersten richtigen Begegnung einen Antrag
gemacht?“
Nell nickte
erneut. „Er wollte aber nur freundlich zu mir sein. Ich hatte gerade mein
Zuhause verloren und alles, was ich besaß.“
Lady
Gosforth zog die Augenbrauen zusammen. „Ein Mann, der mit neunundzwanzig immer
noch unverheiratet ist, macht keinen Heiratsantrag, um freundlich zu sein,
junge Dame. Sonst wäre er nämlich schon längst verheiratet. Und Harry,
so wie ich ihn kenne, bittet niemals um irgendetwas. Niemals. Erst recht nicht,
wenn er schon zweimal abgewiesen worden ist.“
„Beim
letzten Mal hat er mich nicht direkt darum gebeten“, gab Nell
trocken zurück.
„Ja, und
das ist sogar noch erstaunlicher.“ Sie betrachtete Nell nachdenklich. „Ich
glaube, da steckt mehr dahinter, als ihr beide euch anmerken lasst.“
Nell
wappnete sich innerlich.
„Doch das
spielt keine Rolle, ich würde sagen, das geht mich nichts an“, fuhr Lady
Gosforth im Plauderton fort. „Ich wollte mit Ihnen über Harry und auch über
Gabriel sprechen. Sie wissen, wer das ist?“
„Sein
Bruder.“
„Sein
Halbbruder, ja.“ Sie sah Nell ernst an. „Sie kennen die Umstände von
Harrys Geburt?“
Nell
nickte. „Ja, er hat es mir gleich zu Beginn erzählt.“
„Gut.
Wissen Sie, dass es eine Spaltung in seiner Familie gibt?“
„Nein, ich weiß
nur sehr wenig über seine Familie; er hat nur
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