Anne Gracie
nickte
stumm. Doch, das glaubte sie. Aus dem eigensinnigen Kind war ein eigensinniger
Mann geworden.
Lady
Gosforths Augen schimmerten feucht, als sie Nell anlächelte. „Tante Gertie hat
ganz genau gewusst, was sie tat, als sie Gabriel und Harry zu mir schickte. Ich
hatte vier Kinder zur Welt gebracht, wissen Sie ... aber keins davon hat
überlebt. Als ich dann diese
beiden ernsten, völlig durchnässten kleinen Jungen vor mir stehen sah, die
genauso aussahen wie mein Bruder als Kind ... zwei unerwünschte kleine
Geschöpfe, die fest zusammenhielten gegen den Rest der Welt ... nun, da wurde
ich weich.“ Sie legte das Wollknäuel zur Seite und suchte in ihrem
Retikül nach einem Taschentuch. „Je besser ich sie kennenlernte, desto
deutlicher wurde mir klar, was für großartige Jungen sie waren, alle
beide.“ Sie tupfte über ihre Augen. „Danach kamen sie oft zu mir, in den
Schulferien oder wenn sie ein paar Wochen in London verbringen wollten. Sie
wurden für mich die Söhne, die ich nie gehabt hatte. Harry jedoch hat diese
erste Begegnung nie vergessen. Es dauerte Jahre, bis er endlich glaubte, dass
ich ihn um seiner selbst willen liebte und schätzte. Er hat sich nie wirklich
erwünscht gefühlt, wissen Sie, und er ist zu stolz, um irgendetwas zu
bitten.“ Sie putzte sich die Nase. „Und deshalb, meine Liebe, finde ich es
so unglaublich faszinierend, dass er sie zwei Mal gebeten hat, seine Frau zu
werden.“
Drei Mal,
dachte Nell.
„Nach nur
drei Begegnungen – eine junge Frau, die er kaum kennt. Und als Sie ihn
zurückgewiesen hatten, trug er Sie einfach davon und löste einen solchen
Skandal aus, dass Ihnen gar keine andere Wahl blieb. Der Harry, den ich kenne
und liebe, hätte so etwas niemals getan ... Es sei denn ...“ Nell wartete,
aber Lady Gosforth sprach nicht weiter, sondern fuhr fort, Wolle zu wickeln.
„Es sei
denn?“, fragte Nell schließlich nach.
Lady
Gosforth warf ihr einen besorgten Blick zu. „Lieben Sie meinen Neffen?“
Nell
antwortete nicht; sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war sich noch
nicht sicher, was sie für Harry Morant empfand. Sie war noch
viel zu verwirrt. Sie hatte geglaubt zu wissen, was er von ihr wollte, er
hatte keinen großen Hehl daraus gemacht. Doch seit der letzten Nacht wusste sie
nicht mehr so genau, was sie glauben sollte. Lady Gosforth seufzte. „Tun Sie
ihm nur nicht weh, meine Liebe. Das ist alles, worum ich Sie bitte. Tun Sie ihm
nicht weh.“
Nach dem
Essen kehrte Lady
Gosforth in ihre eigene Kutsche zurück, für ein Mittagsschläfchen, wie sie
verkündete. Das sei so ihre Art, erklärte Harry, Reisen über Land einfach zu
verschlafen. „Ich habe keine
Ahnung, wie sie das fertigbringt“, sagte er zu Nell, als er ihr in die
Postkutsche half. „Die Kutsche schwankt und holpert unentwegt. Und wenn sie
dann am Ziel angekommen ist, geht sie geradewegs zu Bett.“ Er schüttelte
den Kopf.
„Du hängst
sehr an ihr, nicht wahr?“, fragte Nell.
Er machte
ein überraschtes Gesicht. „Ja, das stimmt wohl.“ Er zuckte die Achseln.
„Ich habe nicht viel Familie – im Grunde nur sie und die Barrows. Und Gabriel,
natürlich, in Zindaria.“
Ihr fiel
auf, dass er seine anderen Brüder gar nicht erwähnte. „Die Barrows?“
„Meine
Pflegeeltern. Mrs Barrow war die Köchin meiner Großtante. Sie nahm mich auf,
als ich sieben war, und seitdem hat sie nicht aufgehört, mich zu
bemuttern.“ Er lächelte. „Sie behandelt mich immer noch wie einen
Siebenjährigen, aber da sie himmlisch gut kocht, lasse ich sie.“
„Aggie
behandelt mich genauso.“
„Und Barrow
hat mir und Gabriel alles beigebracht, was wir über Pferde wissen.“
„Dann muss
er über große Kenntnisse verfügen.“
„Oh ja. So,
worüber habt ihr euch nun unterhalten, meine Tante und du?“
„Ach, über
das
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