Anne Gracie
spürte, durchzuckte sie ein glühendes Gefühl, und die
Pferde draußen, das Holpern der Kutsche und die Welt um sie herum hörten auf
zu existieren. Es gab nur noch ihn, seinen Mund, seine Hände, seinen Geschmack
und seinen Duft. Sie schmolz dahin.
Nach einer
Weile wurde ihr bewusst, dass er sich zurückzog. „Wir haben Zuschauer“,
erklärte er mit einem bedauernden Lächeln. Nell sah, dass sie ein kleines Dorf
erreicht hatten. Die Leute auf der Straße drehten sich nach ihnen um, als sie
vorbeifuhren. Dank des großen Fensters konnten sie geradewegs in die Kutsche
hineinsehen. Kein Wunder, dass er den Kuss abgebrochen hatte. Sie war sehr froh
darüber. Fast.
„Dieser
Braune war so schnell“, murmelte sie und hoffte, dass ihre Stimme gefasst
klang. Um einen Kuss zu wetten – das war beinahe so gefährlich wie um Geld zu
wetten. „Ich frage mich, aus welcher Zucht er stammt?“
„So schnell
wie Sabre ist er nicht“, erwiderte Harry. „Und Ethan hat eine zweijährige
Zindarianerin, die es jetzt schon fast mit Sabre aufnehmen
kann. Wir möchten sie nächstes Jahr um diese Zeit erstmals beim Rennen in
Doncaster antreten lassen.“
Nell
nickte. „Eine gute Idee. Jungpferde sind um die Jahreszeit schneller als im
Sommer. Wahrscheinlich, weil sie weniger abgelenkt
sind.“
Er sah sie
verblüfft an. „Das ist richtig.“
Sie musste
über seinen Gesichtsausdruck lachen. „Hast du schon so schnell wieder
vergessen, wessen Großeltern Rennpferde gezüchtet haben? Das war auch immer
mein Traum. Ich muss sagen, ich hege große Hoffnungen, was Toffees Fohlen
betrifft. Hast du ihm übrigens schon einen Namen gegeben?“
Er
lächelte. „Ich habe ihn Firmin's Hope genannt.“
Das kam so
unerwartet und war so rührend, dass Nell einen Moment lang nichts sagen konnte.
Sie hätte sich selbst keinen besseren Namen ausdenken können. Er fasste alles
zusammen – ihre Hoffnungen für das Fohlen, für den Besitz und, wie es aussah,
auch Harrys eigene Hoffnung. Ganz zu schweigen von den Arbeitern auf dem
Besitz, die jedes Mal, wenn das Fohlen siegte, einen prozentualen Anteil vom
Preisgeld erhalten würden, auch hier bestand also Hoffnung. „Das ist ein
wunderschöner Name“, sagte sie heiser. „Einfach vollkommen.“
Er sah ihr
in die Augen. „Genau wie du“, murmelte er und zog sie in seine Arme. Das
Dorf lag mittlerweile hinter ihnen ...
Im Palast von Zindaria
Miss Jane
Tibthorpe, von ihren Freunden Tibby genannt, nahm dankend ein Silbertablett mit
ungefähr zehn, zwölf Briefen entgegen, das der Lakai ihr überreichte.
Sie fing
sofort an, sie durchzusehen – elegant bedruckte Einladungen, Briefe auf
Büttenpapier mit Goldprägung, Briefe mit einem königlichen Siegel, ein
persönliches Schreiben von der Herzogin von Braganza an Prinzessin Caroline von
Zindaria. „Bitte bringen Sie das hier der Prinzessin“, bat sie den Diener.
„Es ist ein persönliches Schreiben und sollte nicht auf meinem Schreibtisch
landen.“
Als sie
einen kleinen weißen Brief auf ganz alltäglichem Papier entdeckte, erstarrte
ihre Hand mitten in der Bewegung. Unter dem züchtigen Mieder ihres schlichten
blauen Kleids fing ihr Herz stürmisch zu klopfen an.
Tibby
wusste, vom wem dieser Brief stammte. Sie lebte für seine Briefe.
„Das wäre
dann alles, danke“, sagte sie. Sobald der Lakai gegangen war, schob sie
das Schreiben hastig in ihr Mieder. Ethans Briefe las sie immer in vollkommener
Zurückgezogenheit. Sie gehörten ihr, nur ihr ganz allein, genau wie ihre
Gefühle.
Sie widmete
sich weiter ihren Aufgaben und arbeitete sich konzentriert und ruhig durch den
Stapel Korrespondenz, bis alles erledigt war.
Inzwischen
war es Nachmittag geworden. Callie hielt an dem
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