Anne Gracie
Ritual fest, um diese Tageszeit
Tee und Gebäck servieren zu lassen. Sie tat das Tibby, aber auch sich selbst
zuliebe, und so musste Tibby mit dem Lesen des Briefs noch länger warten.
Sie trank
ihren Tee, verspeiste lustlos ein Stück Gebäck und bemühte sich, der
Unterhaltung zu folgen. Zum Glück befanden sich gerade Gäste im Palast, sodass
Callie zu beschäftigt war, um mitzubekommen, wie unkonzentriert ihre Freundin
am Tisch saß. Sobald die Teezeremonie beendet war, entschuldigte Tibby sich und
zog sich in den Garten zurück.
Es war ein
frischer, kühler Tag, und sie wusste, wo sie jetzt ungestört bleiben würde. Es
würde zwar kaum noch eine Stunde hell sein – die Tage wurden jetzt schon so
schnell kürzer –, aber wenn sie auf ihr Zimmer ging, um den Brief dort zu
lesen, wüsste jeder, wo sie zu finden war. Sie konnte es nicht ertragen gestört
zu werden, wenn sie einen von Ethans Briefen las.
Sie ging
auf das hohe Heckenlabyrinth zu und begab sich zielstrebig in dessen Mitte.
Dort setzte sie sich auf die Bank, holte tief Luft und zog den Brief hervor.
Vorsichtig erbrach sie das Siegel und strich liebevoll die Briefbögen glatt.
Meine
liebe Miss Tibby ...
Die
vertraute Handschrift brachte sie zum Lächeln, diese Schrift war genau wie
Ethan selbst – uneben, unkonventionell und attraktiv. Sie warf einen raschen
Blick auf das zweite Blatt und, ja, da war eine Zeichnung. Tibby zwang sich,
sie sich nicht gleich anzusehen, noch nicht.
Ganz
langsam und mit Genuss las sie den Brief, bei jedem Wort glaubte sie, Ethans
melodiöse, tiefe Stimme zu hören. Sie liebte es, wie er über die Ereignisse in
seinem Leben schrieb – darüber, wie die Pferde sich machten, über seine
Hoffnungen, ein ganz bestimmtes Fohlen betreffend, über seine Freundschaft mit
dem ältlichen Vikar und über ihre regelmäßigen Schachpartien.
Und – ach!
Er hatte ein kleines Haus gekauft. Ein Haus ... Wozu brauchte er ein Haus? Mit
drei Schlafzimmern.
Jetzt
endlich sah sie sich die Zeichnung genau an. Sie war wunderschön gezeichnet,
lebendig und anmutig. Das Haus war detailgetreu wiedergegeben, und die Rosen
vor dem Eingang wirkten so echt, dass man beinahe ihren Duft wahrzunehmen
glaubte. Aber die Frau ...
Tibby kniff
die Augen zusammen und versuchte, ihre Gesichtszüge zu erkennen, doch er hatte
wirklich nur ihre Umrisse gezeichnet.
Rasch las
sie den Brief weiter und hielt erschrocken den Atem an.
... die
Dame, der ich den Hof mache ...
Ethan
machte jemandem den Hof! Er umwarb eine Dame! Einen Moment lang bekam Tibby
keine Luft. Es war, als lastete ein Stein auf ihrer Brust. Sie starrte die
Worte an.
... die
Dame, der ich den Hof mache, ist so vornehm und gebildet ...
Sie atmete
ein paar Mal tief durch. Ich bin froh, dass er jemanden gefunden hat, sagte
sie sich, dennoch fiel ihr das Atmen ziemlich schwer. Mr Delaney – es war
nicht anständig, einen verlobten Mann in Gedanken beim Vornamen zu nennen – war
ein guter, starker und sehr attraktiver Mann mit so viel Charme. Ein echter
Gentleman. Da war es doch nur natürlich, dass er sich eine hübsche junge Frau
suchte und mit ihr eine Familie gründete.
Was hatte
sie denn gedacht? Dass er einen zweiten Blick auf eine spindeldürre alte
Jungfer werfen würde, die ihrem siebenunddreißigsten Geburtstag entgegensah?
Selbstverständlich nicht, nicht ein so viriler Mann wie Ethan. Er hatte
bestimmt die freie Auswahl unter den Damen. Wahrscheinlich schrieb er Tibby nur
aus Dankbarkeit, weil sie ihm das Schreiben beigebracht hatte.
Wie schön,
dass diese reizende junge Frau gebildet war, sie würde Eth... Mr Delaney mit
seinen Büchern helfen können.
Ich freue
mich für ihn, redete sie sich ein. Wirklich sehr. Sie war geradezu begeistert.
Sie würde ihm gleich schreiben und ihm
Weitere Kostenlose Bücher