Anne in Windy Willows
Freude entgegen. Mit ihrem roten Mantel und ihrem grünen Käppchen sah sie aus wie eine Fee.
»Ich bin ganz aus dem Häuschen«, raunte sie mir beim Hinausgehen zu. »Jetzt bin ich Betty. Ich bin immer Betty, wenn ich mich so fühle wie jetzt.«
Wir gingen die Straße zum Ende der Welt entlang und kehrten dann bald um, weil Elizabeth nicht zu lange draußen bleiben sollte. Die Sonne ging dunkelrot am Horizont unter, und der ganze Hafen sah aus wie ein Märchenland.
»Wenn wir ganz doll rennen, erreichen wir dann noch den Sonnenuntergang, Miss Shirley?«, wollte Elizabeth wissen. »Wir müssen warten, bis >Morgen< da ist«, sagte ich. »Sieh mal, die goldene Wolkeninsel hinter dem Hafen. Wir tun so, als sei das deine Insel des Glücks.«
»Dort hinten gibt es wirklich irgendwo eine Insel«, meinte Elizabeth träumerisch. »Sie heißt Flying Cloud, Fliegende Wolke. Ist das nicht ein wundervoller Name? Vom Dachbodenfenster aus kann ich sie sehen. Sie gehört einem Mann aus Boston, der dort sein Sommerhaus hat. Aber ich stellte mir vor, es sei meine Insel.«
Als wir wieder vor dem Haus angelangt waren, gab ich Elizabeth einen Abschiedskuss. Nie werde ich ihren Blick vergessen, Gilbert, so viel Sehnsucht nach Liebe steckte darin. Heute Abend, als sie ihre Milch holen kam, bemerkte ich, dass sie geweint hatte, und fragte sie nach dem Grund.
»Sie haben gesagt, ich soll Ihren Kuss abwaschen, Miss Shirley«, schluchzte sie. »Und ich wollte doch nie wieder mein Gesicht waschen, das habe ich mir geschworen. Heute früh, bevor ich zur Schule ging, habe ich mich geweigert, aber heute Abend ist die Frau gekommen und hat mir den Kuss einfach abgeschrubbt.«
»Aber es bleibt dir nichts anderes übrig, als im Lauf deines Lebens ab und zu dein Gesicht zu waschen, mein Schatz«, beruhigte ich sie. »Mach dir nichts daraus. Ich werde dir jeden Abend einen Kuss geben, wenn du deine Milch holst, dann ist es nicht schlimm, wenn er am nächsten Morgen abgewaschen wird.«
»Sie sind der einzige Mensch auf der Welt, der mich lieb hat«, schniefte Elizabeth.
»Deine Großmutter liebt dich auch, Elizabeth«, gab ich zu bedenken.
»Nein, sie hasst mich.«
»Deine Großmutter und Miss Monkman sind beide alt, und alte Leute fühlen sich schnell gestört und machen sich Sorgen. Sie wurden früher viel strenger erzogen als die Kinder heute und sie kennen es eben nicht anders«, versuchte ich zu erklären.
Mein Gefühl sagte mir jedoch, dass ich Elizabeth nicht überzeugen konnte. Und sie hat ja Recht, sie lieben sie wirklich nicht. Sie sah sich vorsichtig um, um sich zu vergewissern, dass die Haustür zu war, und erklärte dann bedächtig: »Großmutter und die Frau sind nichts als alte Tyrannen, und >Morgen< werde ich weglaufen und nie mehr zurückkommen.«
Sie erwartete offenbar, dass ich nun vor Schreck tot umfiele, aber ich lachte nur und küsste sie, und ich hoffte, Martha Monkman hat es vom Küchenfenster aus gesehen.
Von meinem linken Turmfenster aus kann ich beim Schreiben die schneebedeckten Dächer von Summerside überblicken. Sie sehen so friedlich aus, vor allem, seitdem die Pringles nicht mehr meine Feinde sind. In manchen Mansardenfenstern schimmert Licht und hier und dort steigt kaum sichtbar grauer Rauch auf. Über allem leuchten hell die Sterne. Es sieht aus wie im Traum.
Gilbert, ich bin so glücklich! Keine Niederlage und keine Schande! Ich werde Weihnachten auf Green Gables doch in Frieden feiern können!
Kapitel 9
An einem Februarabend, als der Wind die Schneeflocken gegen die Fenster peitschte und drinnen der warme Ofen bullerte, hatte Anne Besuch von Trix Taylor, die sich bei ihr ausweinte. Es kam immer öfter vor, dass Mädchen mit Liebeskummer zu ihr kamen. Jeder in Summerside wusste schließlich, dass Anne verlobt war, deshalb brauchte sie als Rivalin nicht gefürchtet zu werden. Außerdem war man sich bei ihr sicher, dass sie nie ein Geheimnis ausplaudern würde.
Trix hatte Anne für den kommenden Abend zum Essen eingeladen. Sie war klein und mollig, mit braunen, ständig zwinkernden Augen und rosigen Wangen. Mit ihren zwanzig Jahren sah sie nicht gerade so aus, als ob sie schon Schweres durchgemacht hatte. Aber im Augenblick hatte sie wirklich Kummer.
»Dr. Lennox Carter kommt morgen zum Abendessen«, berichtete sie. »Er ist der neue Dozent für moderne Sprachen in Redmond und er ist furchtbar gebildet. Wir brauchen unbedingt jemanden, der sich mit ihm unterhalten kann, und da haben wir an Sie
Weitere Kostenlose Bücher