Anne in Windy Willows
kennen Sie Papa schlecht«, sagte Trix in düsterem Ton. »Vielleicht kenne ich ihn besser als du. Ich meine, vielleicht kann ich ihn besser beurteilen, weil ich nicht dauernd mit ihm zusammen bin und ihn deshalb besser verstehe.«
»Ich weiß jedenfalls, dass nichts auf der Welt Papa zum Sprechen bewegen kann, wenn er sich in den Kopf gesetzt hat zu schweigen«, erklärte Trix. »Er ist sogar stolz darauf.«
»Dann verstehe ich nicht, warum ihr anderen dann nicht einfach so tut, als wäre nichts«, wunderte sich Anne.
»Es geht einfach nicht. Ich habe Ihnen ja gesagt, wir sind dann wie gelähmt. Wenn er bis morgen Abend die Sache mit dem Flanellnachthemd nicht verdaut hat, werden Sie es ja erleben. Er kann meinetwegen noch so launenhaft sein, wenn er wenigstens sprechen würde! Es ist ganz einfach diese unerträgliche Stille! Wenn das bloß gut geht morgen. Auf jeden Fall wird es uns eine große Hilfe sein, wenn Sie dabei sind. Mama meinte, wir sollten auch Katherine Brooke einladen. Aber Papa hasst sie, und ich muss sagen, das kann ich ihm noch nicht einmal übel nehmen. Es ist mir schleierhaft, wie Sie es schaffen, so nett und freundlich zu ihr zu sein.«
»Ich habe Mitleid mit ihr, Trix.«
»Mitleid. Es ist doch ihre eigene Schuld, wenn keiner sie mag. Summerside könnte gut und gerne auf sie verzichten.«
»Sie ist doch eine sehr gute Lehrerin«, wandte Anne ein. »Finden Sie? Ich war in ihrer Klasse. Sie hat mir den Stoff regelrecht eingehämmert und mich mit ihren sarkastischen Bemerkungen gelöchert. Und ihre Kleider erst! Papa kann schlecht gekleidete Frauen nicht ausstehen. Mama verzeiht ihm diese Einstellung, weil er schließlich ein Mann ist. Wenn das bloß alles wäre, was man ihm verzeihen müsste! Papa ist so gemein zu Johnny. Er traut sich nicht mehr zu uns nach Hause und ich steige heimlich nachts aus dem Fenster, um ihn zu treffen, und es ist so kalt draußen ...«So ging es noch minutenlang weiter.
Als Trix endlich gegangen war, entfuhr Anne ein Seufzer der Erleichterung.
Kapitel 10
Als Anne am nächsten Abend das Haus von Cyrus Taylor betrat, schlug ihr bereits an der Tür eine knisternde Atmosphäre entgegen. Auf dem Weg zum Salon fiel ihr Mrs Taylor auf, die gerade vom Esszimmer in die Küche huschte und sich dabei hastig ein paar Tränen aus dem Gesicht wischte. Es gab keinen Zweifel: Cyrus hatte die Nachthemdgeschichte noch nicht verdaut.
Trix kam völlig aufgelöst herein und raunte Anne zu: »Oh, Anne, seine Laune ist hundsmiserabel! Dabei hat er heute Morgen noch einen ganz friedlichen Eindruck gemacht und wir wollten schon aufatmen. Bis Hugh Pringle heute Nachmittag eine Partie Dame mit ihm spielte und Papa verlor. Ausgerechnet heute! Ein Damenspiel zu verlieren ist für Papa die reinste Katastrophe. Er warf Esme, die sich gerade für Lennox Carter schön machen wollte, aus dem Zimmer und verbarrikadierte sich darin. Ich habe mich daraufhin nicht getraut, meine Haare einzudrehen, weil Papa künstliche Locken nicht mag. Dann ging er her und warf die Blumen in den Müll, die Mama auf den Esstisch gestellt hatte, und dabei hatte sie sich so viel Mühe gegeben! Und er verbot ihr, die Granatohrringe zu tragen. Das ist eine seiner schlimmsten Launen! Bitte, Anne, wenn er beim Essen nicht spricht, dann tun Sie es, so gut es geht.«
»Ich werde es versuchen«, versprach Anne, denn irgendetwas fiel ihr eigentlich immer ein. Bis es dann so weit war und alle um den liebevoll gedeckten Tisch versammelt saßen: Mrs Taylor, verschüchtert und aschfahl im Gesicht, Esme, so bleich, dass sie jeden Augenblick in Ohnmacht zu fallen drohte, Pringle, ein sonst lustiger vierzehnjähriger Lausejunge mit runden Augen und runden Brillengläsern, der jetzt wie ein Hund in Ketten aussah, und Trix, die dasaß wie ein verängstigtes Schulmädchen.
Dr. Carter stellte sich als ein kultiviert wirkender Herr mit krausem schwarzen Haar, leuchtenden dunklen Augen und einer Brille mit Silberrand heraus. Er war Anne während seiner Ausbildung in Redmond College eher als aufgeblasener Langweiler aufgefallen. An diesem Abend fühlte er sich offenbar unbehaglich. Er schien zu merken, dass irgendetwas hier nicht stimmte - eine nicht sehr scharfsinnige Beobachtung, wenn der Gastgeber schnurstracks auf seinen Ehrenplatz zustolziert und sich wortlos auf den Stuhl fallen lässt!
Cyrus dachte nicht daran, das Tischgebet zu sagen. Stattdessen murmelte Mrs Taylor mit hochrotem Kopf und fast unhörbar das Gebet vor sich hin.
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