Annebelle - sTdH 2
Sylvesters Krawatte
hoben und langsam begannen, sie loszubinden.
Sie gab
einen unterdrückten Laut von sich und tappte wie eine Schlafwandlerin zur Tür
des Salons. Leise ging sie hinaus und schloß ebenso leise die Tür hinter sich.
Einen Fuß vorsichtig vor den anderen setzend, ertastete sie sich ihren Weg wie
Madame Saqui auf dem Seil in Vauxhall Gardens. Endlich erreichte sie die
Sicherheit ihres Zimmers. Sie legte sich vorsichtig aufs Bett, schloß die Augen
und fiel sofort in Schlaf, allen Schmerz und alle Demütigung bis zum Morgen
hinter sich lassend.
Drittes Kapitel
Der
Morgen dämmerte
weiß und kalt. Schnee bedeckte den Park. Annabelle lag im Bett, sehr still,
und starrte an den Betthimmel. Ihre Seele fühlte sich so weiß und dumpf und
leer wie der Tag draußen. Irgendwo ganz am Rande ihres Bewußtseins war ihr
klar, daß Schmerz und Demütigung darauf warteten, sich auszubreiten. Doch im
Augenblick wünschte sie sich nichts weiter, als ganz still zu liegen und an absolut
gar nichts zu denken.
Betty kam
mit der Morgenschokolade herein und zog die Vorhänge auf; der Raum füllte sich
mit weißem Licht. Bald knisterte das Feuer im Kamin. Annabelle fing den Blick
auf, den Betty in ihre Richtung warf: hinterhältig, hämisch, voll frisch
genossenen Klatsches.
Das Mädchen
ging hinaus, und Annabelle setzte sich müde auf. Sie fühlte sich, als habe sie
überhaupt nicht geschlafen. Dann fiel ihr mit einer großen, roten Welle von
Schmerz alles wieder ein.
Minerva.
Die zimperliche, nüchterne, korrekte Minerva, die Lord Sylvesters Krawatte
löste. Die leidenschaftliche Umarmung. Klar wie eine Glocke klang Lord
Sylvesters Stimme in ihrem Hirn: »Also küß mich, Minerva, und laß uns dieses
anstrengende Kind vergessen.«
Annabelle
krümmte sich vor Erniedrigung. Sie konnte sich nicht anziehen und nach
unten gehen. Wie würden sie alle lachen! Wie würde diese schreckliche Herzogin
ihre Schadenfreude genießen und jedem erzählen, die Familie Armitage sei so
gewöhnlich wie ein Friseurstuhl.
Doch
langsam, irgendwo auf dem Grund ihres Elends, entzündete sich ein kleiner Funke
von Wut, fing Feuer und wuchs allmählich zur Flamme. Minerva war immer die
gewesen, die geliebt wurde, die gut war. Oh, könnte sie Minerva doch einmal
übertrumpfen!
Unter den
Fenstern hörte sie Bewegung und das Geräusch von Stimmen.
Annabelle
schwang plötzlich die Beine aus dem Bett und schaute dabei auf die Uhr auf dem
Kaminsims.
Elf Uhr!
Fröstelnd
in dem noch kalten Raum, obwohl sie noch immer ihr Kleid über dem Nachthemd
trug, sah sie aus dem Fenster.
Zwei starke
Lakaien halfen dem Marquis von Brabington aus einer Reisekutsche. Obwohl sie
kaum mehr als seinen Hut sehen konnte, erkannte Annabelle ihn an seinen roten
Regimentsabzeichen.
Eine kleine
Gruppe von Leuten, darunter Lord Sylvester, umringte ihn und half ihm dann ins
Haus.
Annabelle
setzte sich auf die Bettkante und begann angestrengt nachzudenken. Der Marquis
hatte bei zwei Gelegenheiten, als er im Pfarrhaus vorgesprochen hatte, mehr als
beiläufiges Interesse an ihr gezeigt. Er war ein Marquis. Er war gutaussehend,
er war reich, er war ein Held. Und er war Lord Sylvesters bester Freund.
»Wenn ich
ihn heiraten würde«, sagte Annabelle zum Kaminfeuer, »dann wäre ich eine
Marquise. Und ... Ich würde eine Doppelhochzeit vorschlagen – das würde
Minerva den Wind aus den Segeln nehmen! Lord Sylvester ist nur Vicomte; das
bedeutet also, daß ich höher stünde als Minerva und ihr bei allen Bällen und
Festen den Rang abliefe. Ich mache den Marquis zum glücklichsten aller Männer,
während Lord Sylvester seine langweilige Frau bald satt hat; er sagte doch,
daß Minerva ihn tyrannisiert. Wir würden als schönstes Paar Londons gelten.«
Annabelles
ausgeprägte Eitelkeit gewann wieder die Oberhand. Sie läutete nach Betty und
wies sie knapp an, ihr das graue Kleid herauszulegen; dabei achtete sie scharf
auf irgendwelche Zeichen von Unverfrorenheit bei dem Mädchen. Doch Betty hatte
den kämpferischen Ausdruck auf Annabelles Gesicht bemerkt und hütete sich wohl,
irgend etwas zu tun, das einen von Miss Bellas berühmten Wutanfällen auf ihr
Haupt herabbeschwören könnte. Betty wunderte sich über das Kleid, das ihre
Herrin ausgewählt hatte, wußte sie doch, daß Annabelle viele Male gedroht
hatte, diesen »schlampigen Quäkerfetzen« wegzuwerfen.
Das Kleid
war aus Nankingstoff im Husarenstil gearbeitet und vom hochgeschlossenen Kragen
bis zum bodenlangen
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