Annebelle - sTdH 2
Britannien
könne in die Fänge einer Revolution geraten, wie es in Frankreich geschehen
war, hatte sich allmählich gelegt, und so kamen die nicht auf ihren Gütern
lebenden Gutsherren zurück an die Spieltische und verloren das Geld, das
eigentlich in ihre Ländereien und Besitztümer hätte fließen sollen.
Von Zeit zu
Zeit wurden sowohl die Herren als auch die Damen an die Realitäten der Welt
draußen erinnert. Jedesmal, wenn es wieder einen Sieg in Spanien gegeben
hatte, strömte der Mob auf die Straßen, schoß Feuerwaffen ab, stürzte Kutschen
um, zündete sie an und attakkierte alle Häuser, in denen nicht zur Feier des
Tages Lampen oder Kerzen angezündet worden waren – denn es gab eine
Kriegspartei und eine Antikriegspartei im Parlament, und der Mob konnte sich
leichtes Geld verdienen, indem er zugunsten der einen oder der anderen Steine
schleuderte.
Auch Arbeit
war nicht in Mode; vom Saal bei Almack's bis zu den Bogenfenstern von White's
kämpfte man um einen Platz in den Reihen der eleganten Müßiggänger.
Die
Monarchie wurde gehätschelt, aber allgemein verachtet dank der Zunahme der
Bildung, der weiten Verbreitung von Zeitungen und der brillantesten und
grausamsten Karikaturisten, die je gelebt hatten.
Der
Prinzregent war nicht mehr der allgemeine Liebling. Fett und rot, berühmt für
seine Neigung zu alternden Mätressen und für sein enormes, in hautenge
Kniehosen gezwängtes Hinterteil, wurde er gnadenlos kritisiert, vielleicht
deshalb, weil er diese Kritik ganz offensichtlich sehr übelnahm.
Seine
Brüder galten als Schandflecke.
Der Herzog
von York verursachte einen Skandal, als herauskam, daß seine Geliebte Offizierspatente
verkaufte.
Der Herzog
von Clarence ignorierte als Marinesoldat die Befehle seiner Vorgesetzten. Im
Zivilleben redete er wie ein Stallknecht und lebte mit seiner Freundin, der
Schauspielerin Mrs. Jordan, die ihn zum Vater einer ganzen Sippe kleiner
Fitzclarences machte.
Der Herzog
von Kent war ein Sozialist, ein Radikaler, und intrigierte gegen den
Prinzregenten. Er war ein so harter militärischer Zuchtmeister, daß in
Gibraltar wegen der Strenge seiner Disziplin eine Meuterei ausbrach.
Der Herzog
von Sussex war närrisch und extravagant, der Herzog von Cambridge exzentrisch
und wild; er hatte eine laute, bellende Stimme. Das einzige, was sich zu seinen
Gunsten sagen läßt, ist, daß er nur legitime Nachkommen zeugte.
Der Herzog
von Cumberland war so boshaft, daß sogar seine igene Familie mit Entsetzen von
ihm sprach. Er brachte seinen römisch-katholischen Kammerdiener durch die
Verspottung seiner Religion derart gegen sich auf, daß der Mann mit einem
Säbel auf ihn losging und ihm das Gehirn freilegte; sein böses Gesicht wurde
dadurch noch finsterer. Er überlebte den Angriff.
Es war eine
Welt doppelter Maßstäbe; grobe Brutalität war mit höchster Verfeinerung
gepaart. Man gab Lippenbekenntnisse ab zu den Zehn Geboten, doch in
Wirklichkeit beugte sich jedermann nur dem einen, ungeschriebenen Gebot: Du
sollst dich nicht erwischen lassen. Eine verheiratete Frau konnte ein
Verhältnis haben, wenn sie nur diskret war. Sich erwischen zu lassen, bedeutete
den gesellschaftlichen Ruin.
Minerva war
bei ihrem Debut dieser verrückten Welt besser gewachsen gewesen, da sie mit
strengen christlichen Prinzipien ausgerüstet war. Annabelle aber, mit ihrem
Hunger nach Beachtung, ihrer Eifersucht, ihrer Unreife und ihrer intensiven
Jungmädchenliebe für Lord Sylvester, war vollkommen verwirrt.
Noch immer
wollte sie die klassische Schönheit Minervas ausstechen. Sie träumte
fieberhaft vom Murmeln der Bewunderung bei ihrem eigenen Erscheinen in der
Kirche und davon, daß Minerva im Schatten ihrer strahlenden Schönheit stehen
würde.
Ihr
Hochzeitskleid, das allmählich unter den geschickten Händen von Madame Verné
entstand, schien deprimierend schlicht; es war aus weißem Satin, wurde unter
einem Arm geschlossen und hatte eine Halbschleppe; ein langer Schleier aus
Valenciennespitzen gehörte dazu.
Doch
Annabelles Enttäuschung über ihr Kleid schwand bei Minervas Mitteilung, das
Kleid, das die Herzogin ihr gegeben habe, sei alt und verschlissen und die
Spitzen ganz gelb.
»Oh, wie
kannst du das aushalten, Merva», fragte Annabelle mit runden Augen.
»Ich
heirate den Mann meiner Wahl«, lächelte Minerva, »also kann ich zufrieden sein
mit dem, was ich eben habe. Sylvester macht es nichts aus.«
Oho, dachte
Annabelle, dem exquisiten Lord Sylvester dürfte das
Weitere Kostenlose Bücher