Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
Laptop aus, loggte sich ins Netzwerk ein, öffnete Facebook und landete mitten in Eva-Britts Hymne über »Warten auf Godot«. Sie hörte die Telefonate der Kollegen, Nachrichtenjingles und das Rauschen der Lüftung. Sie schob den Rechner zur Seite und nahm sich die aktuelle Papierausgabe der Zeitung vom Nachbartisch.
ANGEGRIFFEN – HARRIET VON
DER EIGENEN HAND BEDROHT
Das Foto einer fetten Frau in einem Krankenhausbett, die sich im Gesicht kratzte und offenbar vor Schmerzen schrie, dominierte die Titelseite. Es hieß, sie leide am Alien Hand Syndrome .
Fast war es tröstlich. Ihr Mann war zwar im nordöstlichen Kenia verschwunden, aber sie wurde wenigstens nicht von der eigenen rechten Hand angegriffen. Junge Mütter wurden zwar ermordet – aber sie hatte wenigstens einen Job.
Gehorsam blätterten ihre Hände schnell den Nachrichtenteil durch.
Nicht eine Zeile über die ermordete Mutter in der Nähe der Kita in Axelsberg.
Sie ließ die Zeitung ins Altpapier segeln, ging hinüber zu den Auflageanalysten und borgte sich deren Exemplar der Morgen zeitung (okay, sie klaute es). Im Stockholm-Teil unter der Rubrik »Kurz und knapp« fand sie eine Notiz über eine Leiche, die in einem Waldstück in Hägersten gefunden worden war. Kein Verbrechen, keine Kita, kein Mensch. Eine Leiche. Gefunden. In einem Waldstück.
Die Morgenzeitung erlitt dasselbe Schicksal wie das Abendblatt , dann zog Annika ihren Rechner wieder zu sich heran und ging auf Blogsuche.
Von Zurückhaltung, ethischem Anspruch oder möglicherweise nur vom Desinteresse, das die etablierten Medien der ermordeten jungen Frau entgegenbrachten, war im Netz nichts zu spüren. Die Spekulationen darüber, was der toten Frau hinter der Kita widerfahren sein könnte, füllten mehrere Seiten. Die meisten Theorien wurden wie unumstößliche Fakten dargestellt. Selbstverständlich wurde der Frau – streckenweise in richtig herzergreifendem Stil – auch ein Name zugeschrieben, und nicht nur einer. Sie hatte vier verschiedene Identitäten.
Entweder war es Karin, Linnea, Simone oder Hannelore, die zu Tode gekommen war, man hatte die Wahl. Die meisten Opfer hatten entweder zu viele oder gar keine Kinder, aber ein Blogger, »Das schöne Leben in Mälarhöjden«, beklagte in einem durchgängig mit Schreibfehlern gespickten Beitrag das Schicksal des kleinen Wilhelm. Ungefähr in derselben Tonlage, die Anne Snapphane gestern angeschlagen hatte, als es um die bevorstehende Vaterlosigkeit von Annikas Kindern ging.
»Linnea Sendman war immer so nett, obwohl man ihr angesehen hat, das die Scheidung sie zimmlich mittgenommen hat.«
Das könnte etwas sein, wenn sie überhaupt Sendman hieß. Gut möglich, dass auch der Name falsch geschrieben war.
Annika suchte weiter nach Linnea Sendman, fand Facebook- und LinkedIn-Seiten, Ergebnisse vom Schwimmverein Järfella Nationella und die Gymnasiumsanwärter dieses Herbstes und – Bingo!
Sie beugte sich näher an den Bildschirm heran. Ein Beitrag von Viveca Hernandez, die ihr Blog wahrhaftig auf Blogspot.abendblatt.se, also einem Server der Zeitung, führte.
»Als Linnea Evert bei der Polizei anzeigte, haben sie die Sache sehr ernst genommen. Er waren so viele Vergehen über einen sehr langen Zeitraum, dass sie ihn wegen Frauenfriedensbruchs anklagen wollten. Haben sie aber nicht. Evert machte weiter wie bisher, rief rund um die Uhr bei Linnea an, trat die Tür ein und brüllte rum, dass es nur so durchs Treppenhaus schallte. Nach einer Woche hat Linnea dann beim Staatsanwalt angerufen und gefragt, warum sie ihn nicht einbuchteten, sie habe ihn doch angezeigt, und da sagte der Staatsanwalt, dass alle Vergehen verjährt seien. Häusliche Gewalt und Nötigung und sexuelle Misshandlung, wie von ihr angezeigt, hätten eine Verjährungsfrist von zwei Jahren. Aber für schweren Frauenfriedensbruch, sagte Linnea, ist die Verjährungsfrist doch zehn Jahre – das hatten wir nämlich nachgeschlagen. Da sagte der Staatsanwalt, dass das Gesetz so nicht formuliert sei. Schwerer Frauenfriedensbruch sei kein perduratives Verbrechen (so drückte er sich aus, glauben wir, perdurativ). Jede Einzeltat werde für sich beurteilt und habe ihre eigene Verjährungsfrist. Diese zehn Jahre seien rein hypothetisch, sagte er …«
Annika lehnte sich vollkommen verwundert zurück. War das möglich? Sie hatte selbst reihenweise Artikel geschrieben und massenhaft Interviews mit Wissenschaftlern und Juristen zum Thema »schwerer
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