Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
wurde.«
Das Festnetztelefon klingelte. Annika erstarrte von Kopf bis Zeh. Ihr Gehör war so geschärft, dass das Tropfen des Küchenwasserhahns in ihren Ohren hallte und sie mitbekam, wie Halenius auf dem Computer klickte und dann »Hallo« sagte. Annikas Herzschlag übertönte die Geräusche, und sie konnte nicht verstehen, was er sagte, nicht, welche Sprache er sprach, sie hörte nicht, dass er auflegte, sie sah ihn nur mit zerraufter Frisur ins Wohnzimmer kommen.
»Sophia Grenborg will Sie sprechen«, sagte er durch ihren dröhnenden Pulsschlag. »Ich habe gesagt, Sie rufen zurück.«
Er legte ihr einen Zettel mit einer Telefonnummer in den Schoß und ging zurück in die Entführungszentrale (würde sie jemals wieder dort schlafen können?).
Ihr Herzschlag verlangsamte sich, jedoch kaum wahrnehmbar. Nach den Entführern war Sophia Grenborg der letzte Mensch auf der Welt, mit dem Annika sprechen wollte.
Sie angelte nach ihrem Redaktionshandy, vierzehn versäumte Anrufe.
»Annika?«, sagte Thomas’ ehemalige Bettgespielin mit brüchiger Stimme.
»Was zur Hölle willst du?«, fragte Annika. Das Adrenalin rauschte durch ihren Kopf.
Sophia Grenborg weinte in den Hörer.
»Ich bin so unglücklich«, stieß sie hervor.
Dass diese Schlampe es wagte!
»Tja, tut mir sehr leid.«
»Entschuldige, dass ich störe, aber ich muss einfach wissen, was passiert ist. Ist das wirklich wahr? Wurde er entführt? Haben sie ihn gefangen genommen? Weißt du, wo er ist?«
»Ja, es ist wahr. Nein, wir wissen nicht, wo er ist.«
Sie stand vom Sofa auf, sie konnte nicht sitzen bleiben.
»Gibt es sonst noch was?«
Sophia Grenborg schnäuzte sich und holte tief Atem.
»Ich weiß, dass du wütend auf mich bist«, sagte sie, »aber schließlich hast du doch gewonnen.«
Annika war irritiert. Sie hatte die nächste Beleidigung schon fast auf der Zunge, schluckte sie aber überrascht runter.
»Er hat sich für dich entschieden«, sagte Sophia. »Dich und die Kinder. Ich war unwichtig. Ich denke jeden Tag an ihn, aber ich glaube, er denkt nie an mich. Nie. Ich habe nicht einmal das Recht, unglücklich zu sein.«
Und dann weinte sie noch mehr.
Annika blinzelte. Berit betrachtete sie nachdenklich.
»Doch, das hast du«, sagte sie.
»Hast du Hilfe? Was sagen Thomas’ Kollegen? Haben die etwas gehört? Hast du etwas gehört?«
Annika schielte hinüber zum Schlafzimmer.
»Wir haben nichts gehört«, log sie und fühlte sich eigenartig schuldig.
Es wurde still in der Leitung. Sophia Grenborg hatte aufgehört zu weinen.
»Entschuldige, dass ich angerufen habe«, sagte sie. »Ich wollte mich nicht aufdrängen.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte Annika und spürte, dass sie es auch so meinte.
»Wie geht es den Kindern? Was sagen sie? Sind sie sehr durcheinander?«
Jetzt ging Sophia Dumme Schlampe Grenborg wirklich zu weit.
»Sie gucken einen Film. ›Findet Nemo‹«, sagte Annika.
»Gut«, sagte Sophia Grenborg.
Wieder wurde es still. Annika wartete. Sophia räusperte sich.
»Wenn ich irgendwas tun kann«, sagte sie. »Wenn ich irgendwie helfen kann, ganz praktisch …«
Möchtest du vielleicht eine Hypothek auf deine Scheiß-Villa auf Östermalm aufnehmen und das Lösegeld bezahlen?, dachte Annika.
»Ruf mich nicht mehr auf der Festnetznummer an«, sagte Annika. »Ich will die Leitung frei halten, falls Thomas anruft.«
»Natürlich«, flüsterte Sophia Grenborg. »Entschuldigung. Grüß die Kinder von mir.«
Wohl kaum.
Annika drückte das Gespräch weg.
»Dich will man wirklich nicht zur Feindin haben«, sagte Berit.
»Wenn man mir nicht meinen Mann wegnimmt, bin ich lammfromm«, sagte Annika.
»Hm«, erwiderte Berit. »Aber die Kinder würde ich dir abnehmen. Und vielleicht übers Wochenende mit ihnen aufs Land fahren, damit ihr hier ein bisschen Spielraum habt, um alles zu regeln.«
Berit wohnte auf einem Pferdehof außerhalb von Norrtälje (obwohl sie keine Pferde außer dem ihres Nachbarn hatte, nur eine Labradorhündin, die auf den Namen Soraya hörte). Kalle und Ellen war schon oft dort draußen gewesen. Als vor ein paar Jahren ihre Villa auf Djursholm abgebrannt war, hatten sie alle dort sogar eine Weile im Gästehaus gewohnt.
Annika spürte, wie ihre Schultern sich entspannten und heruntersanken.
Und im Kinderzimmer hatten sich gerade Nemo und sein Vater im Meer vor Sydney wiedergefunden.
*
Die Mücken auf Gällnö waren groß und laut. Wie kleine infernalische Düsenjets drehten sie
Weitere Kostenlose Bücher