Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
das eine Titelseite wert, und dann auch nur in der Fragestellung, was dem armen Thomas Samuelsson drohte, dem Mann, auf dessen breiten Schultern die Sicherheit Europas ruhte.
Anders Schyman verschaffte sich einen Überblick über die Berichterstattung der anderen europäischen Medien. Vielleicht ließ sich aus der Geschichte von der Frau des Rumänen etwas zusammenstricken. Sie hatte sich zu einem Foto bereit erklärt, das nun über eine Bildagentur in Paris angeboten wurde. Man könnte es veröffentlichen und so tun, als handele es sich um Annika, bis die Leute dann die Bildunterzeile gelesen hatten. Darüber eine schmissige Überschrift, und schon hatte man die Innenseiten komplett.
Er schaute auf seine Armbanduhr.
Bis zur Deadline hatten sie noch ein paar Stunden, aber Schyman glaubte nicht an Wunder. Jetzt mussten sie dafür sorgen, dass sich etwas tat. Er trank seinen Kaffee aus, stand auf und ging zum Newsdesk.
*
Als sie auf den Bürgersteig hinaustrat, schnappte Annika nach Luft. Es war schneidend kalt. Der Himmel war tiefblau und vollkommen klar, und die Sonne verschwand langsam hinter dem Amtsgericht. Zwischen den Häusern herrschte schon Zwielicht.
Der Schnee knarzte unter ihren Schuhsohlen. Die Mütze juckte. Die Straßen waren noch immer nicht geräumt.
Die Filiale der Handelsbank war nur zwei Blocks von ihrer Wohnung entfernt, in der Fleminggatan, wo die Kinder in die Kita gegangen waren.
Ihr Konto war erst ein paar Jahre alt, und sie war nicht mehr in der Bank gewesen, seit sie es eröffnet hatte. Jetzt hatte sie für 15.15 Uhr einen Beratungstermin für eine private Vermögensplanung vereinbart. Anfangs hatte die Frau am Telefon sie ziemlich von oben herab behandelt und erklärt, man habe so kurzfristig keine Termine frei. »Na so etwas«, sagte Annika daraufhin. »Dann muss ich mein Geld wohl zu einer Bank bringen, die einen Termin mit mir machen kann«, und plötzlich wurde ihr 15.15 Uhr vorgeschlagen.
Die Einsicht, dass sie als Mensch keinen Deut wert war, ihr fettes Sparkonto sie hingegen in der Beratungsschlange ganz weit nach vorn brachte, ließ sie die Zähne zusammenbeißen.
Ich darf mich nicht zu laut beschweren, dachte Annika. Denn wer hatte das verdammte Konto schließlich ins Spiel gebracht? Und wer hatte es der armen Finanzberatertante um die Ohren gehauen? Auf dem geräumten Fußweg auf der Rückseite des Rathauses rutschte sie aus und wäre beinahe hingefallen. Es gab einen kräftigen Ruck in der rechten Leiste.
Sie blieb stehen, bis der Schmerz allmählich verschwand, ihr Atem stand wie eine Wolke um sie herum.
Woher kam all diese Wut? Warum war sie so ungerecht? Warum fasste sie Schymans Angebot als Beleidigung auf? Warum wollte sie eine Tussi von der Handelsbank ermorden, die an einem Freitagnachmittag einfach nur müde war und keine Lust auf einen weiteren Idioten und dessen private Vermögensplanung hatte?
Sie zog ihren Handschuh aus und legte die Hand über die Augen.
Sie durfte die Kontrolle nicht verlieren, sonst würde sie kaputtgehen.
Sie hatten noch immer nichts Neues gehört.
Halenius stand mit den Angehörigen und Arbeitgebern der anderen Opfer in ständigem Austausch, aber es hatte keine weiteren Kontaktaufnahmen gegeben.
Aus ihren Fingern wich in der Kälte langsam das Gefühl. Sie zog den Handschuh wieder an und ging vorsichtig weiter. Nach wenigen Schritten blieb sie abrupt stehen. Plötzlich hatte sie deutlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie fuhr herum und schaute sich um: der Eingang zur U-Bahn, Hausfassaden, die Einfahrt in ein Parkhaus, Baubaracken, parkende Autos, ein älteres Paar, das aus einem Café an der Ecke kam. Niemand sah zu ihr her. Niemand. Niemand. Niemand kümmerte sich um sie.
Sie schluckte und ging weiter zur Fleminggatan.
Die Bank lag an der vielbefahrenen Kreuzung von Scheelegatan und Fleminggatan, ein flaches braunes Backsteingebäude mit orangefarbenen Markisen. Ein Kandidat mit guten Chancen auf die Auszeichnung als »Stockholms scheußlichste Immobilie«.
Der Berater für private Vermögensplanung war ein Mann. Die Schnepfe am Telefon war wahrscheinlich nur die Telefonistin, oder sie wollte nichts mit Annika zu tun haben.
Annika konnte ihr keinen Vorwurf machen, nicht in Anbetracht ihrer heutigen Gefühlslage. Sie nahmen in einem Séparée in der großen Bürolandschaft Platz. Einen Kaffee lehnte Annika dankend ab, aber sie nahm das Angebot von einem Glas Wasser an, das der Mann ihr aus einem Spender
Weitere Kostenlose Bücher