Anonym - Briefe der Lust
Wenn „fortgehen“ da, wo man lebt, heißt, dass man mal eben zum Supermarkt fährt, dann ist eine Fahrt von vierzig Minuten so etwas wie ein Flug zum Mond. Ich war weg. Wie auch immer, das von Austin wusste ich bereits.
Harrisburg war der Ort, wo ich hingehörte. Nicht er. Er hätte in Lebanon bleiben sollen, wo seine Familie lebte und immer gelebt hatte. Er hätte dort bleiben sollen, wo jede Straße ihn an mich erinnerte und wo er über das Ende unserer Liebe bittere, salzige Tränen weinen konnte.
„Er wohnt in Lemoyne“, fuhr meine Mutter fort, als hätte ich nichts gesagt. „Seine Mutter hat mir erzählt, dass er dort einen neuen Job bei einer Firma hat, die irgendwas mit Heizen und Kühlen macht. Er arbeitet nicht mehr im Baugeschäft seines Vaters.“
„Schön für ihn.“
„Ich bin sicher, ich könnte dir seine Telefonnummer besorgen.“
„Ich habe seine Nummer.“ Das brachte sie zum Schweigen, denn soweit sie informiert war, hatten Austin und ich seit dem Tag nicht mehr miteinander gesprochen, an dem ich aus unserem Apartment ausgezogen war.
„Schön. Ich dachte nur, du willst es vielleicht wissen, mehr nicht. Er hat einen guten Job.“
„Das hängt davon ab, was man als gut betrachtet.“
Dieses Mal schwieg sie einige Augenblicke länger. „Seit wann bist du so ein Snob?“
Ich seufzte. „Ich bin kein Snob. Ich versuche nur … mein eigenes Leben zu ändern. Mehr nicht.“
Es gab wirklich keine andere Möglichkeit, es auszudrücken, und keine Möglichkeit, es so zu sagen, dass es sie nicht verletzte. Meine Mutter hatte alles, was ich niemals gewollt hatte. Die meisten Eltern möchten, dass ihre Kinder es besser haben als sie selber, und ich wusste, auch meine Mom war so. Aber da ist immer dieser Stachel, wenn man feststellen muss, dass das, was man jemandem gegeben hat, nicht genug war. Selbst wenn es alles war, was man zu geben hatte.
„Ich dachte nur, vielleicht …“
„Was?“
Meine Mom räusperte sich, ein sicheres Zeichen, dass sie drauf und dran war, etwas zuzugeben, wovon sie wusste, dass ich mich darüber ärgern würde. „Ich dachte nur, dass er versucht hat, dich zu sehen. Das ist alles. Versucht hat, Kontakt herzustellen.“
„Du meinst so etwas wie Stalking?“ Schon wieder wütend, wanderte ich mit großen Schritten durch mein Wohnzimmer, dann um meinen Küchentisch herum und schließlich in mein Schlafzimmer, wo ich anhielt, um die Runde nicht von vorn zu beginnen. „Wie konntest du ihm erzählen, wo ich jetzt wohne, Mom? Du weißt, dass ich ihn nicht sehen will!“
„Du weißt ganz genau, es gab eine Zeit, Paige, da wärst du wütend auf mich gewesen, wenn ich ihm nicht gesagt hätte, wo er dich finden kann.“
„Diese Zeit ist schon lange vorbei“, stellte ich fest.
„Es tut mir leid“, entschuldigte meine Mutter sich in förmlichem Ton. „Er hat mich angerufen und gefragt, ob ich ihm sagen kann, wo du wohnst. Ich wusste nicht, dass es dir etwas ausmachen würde, wenn ich es ihm verrate. Eben hast du selbst gesagt, du hättest seine Telefonnummer.“
„Mom …“ Ich seufzte und presste die Fingerspitzen gegen meine Nasenwurzel, damit ich nicht vollkommen ausrastete.
„Wenn ich gewollt hätte, dass er meine Adresse erfährt, hätte ich ihm eine Karte geschickt.“
„Es tut mir leid, Paige.“ Sie klang aufrichtig, aber ich kannte sie gut genug, um zu wissen, es tat ihr leid, dass ich wütend war. Sie entschuldigte sich nicht, weil sie glaubte, sie hätte einen Fehler begangen. „Ich muss jetzt auflegen. Ich bin beim Einkaufszentrum.“
„In Ordnung. Gut.“
„Weißt du“, sagte sie plötzlich, „es würde dich nicht umbringen, ab und zu nach Hause zu kommen. Arty vermisst dich. Und ich auch.“
Ich schlug nicht vor, dass sie zu mir zu Besuch kommen könnten. Jede Fahrt, die auch nur halb so weit war, riss sie aus ihrer vertrauten Umgebung und bereitete ihr Unbehagen. „Ich komme morgen Abend, erinnerst du dich? Um mit Arty ins Kino zu gehen.“
„Du hättest stattdessen am Freitag kommen können. Und übers Wochenende bleiben.“
Vielleicht wusste sie tatsächlich auch am Telefon, was ich für ein Gesicht zog, aber ich bezweifle, dass sie wusste, was für ein heftiger Schauer mich bei dieser Vorstellung überlief.
„Ich kann nicht. Habe zu viel zu tun.“
Sie drängte mich nicht weiter. „In Ordnung. Gut.“
Wir waren uns so ähnlich, dass es manchmal regelrecht unheimlich war. Was natürlich einer der Gründe war, weshalb ich
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