Anonym - Briefe der Lust
der Jahre meines Heranwachsens, als sie die einzige Mutter war, die ich kannte, die sich ebenso sehr für die Backstreet Boys begeisterte wie ich.
„Ich denke nicht. Aber normalerweise hast du einen Grund. Sonst schreibst du mir eine Mail.“
Seit ich „so weit weg“ wohnte und ein Anruf bei mir kein Ortsgespräch mehr war.
„Nun, das muss ich nicht mehr tun.“ Sie machte eine Pause, und ich konnte das Grinsen in ihrer Stimme hören. „Rate mal, von wo ich anrufe.“
„Aus Paris.“
„Nein, Paige“, erwiderte Mom so ernsthaft, als hätte ich keinen Scherz gemacht. „Von meinem Wagen aus. Ich bin auf dem Weg zum Einkaufszentrum.“
„Du telefonierst beim Fahren, Mom? Du weißt, dass das im Stadtgebiet von Lebanon verboten ist. Leg besser auf. Du bekommst sonst einen Strafzettel!“ Ganz zu schweigen davon, dass meine Mom schon schlecht genug fuhr, wenn sie dabei nicht mit einem Telefon hantierte.
„Du verstehst nicht, worum es geht, Paige. Das Entscheidende ist, dass ich dich von meinem eigenen Handy aus anrufe!“
„Aha.“ Ich hätte mir denken können, dass es etwas Wunderbares und Aufregendes war, weshalb sie mich anrief. „Glückwunsch. Herzlich willkommen im neuen Jahrtausend.“
Sie ignorierte meinen absolut nicht subtilen Sarkasmus. „Leo hat es mir geschenkt. Ist er nicht süß?“
Was ihre bisherigen Freunde anging, gehörte Leo zu den besseren Fängen. Dass er um einiges älter war, konnte man durchaus zu seinen Vorzügen rechnen, und mit seinem dicken Bierbauch und seinem langen Bart passte er zweifellos in die lange Reihe von rauen Bikern, mit denen meine Mutter schon zusammen gewesen war. Er fuhr immer noch auf seiner Harley zur Arbeit, und seine beiden Arme waren mit zahlreichen verblassenden Tattoos geschmückt. Aber er war sanfter als einige der jüngeren Typen, die sie gehabt hatte.
„Das war nett von ihm.“
„Von jetzt an kann ich dich anrufen, wann immer ich will!
Und ich kann dir SMS schicken, sobald ich herausgefunden habe, wie das geht.“
„Oh, schön.“ Ich grub in meiner Kramschublade nach einem Stift und einem Zettel und erstarrte für einen Moment, als ich den gelben Notizblock hervorzog. Auf dem oberen Blatt stand immer noch die unvollständige Liste meiner Stärken und Schwächen, und ich vergaß, was ich hatte sagen wollen.
„Paige?“
„Wie ist deine Nummer?“ Ich legte den Zettel mit der Liste beiseite und machte mich bereit zum Schreiben.
„I.W.N.“, erwiderte meine Mutter lässig.
„Häh?“
„I.W.N.“, wiederholte sie. „Also wirklich, Paige. Weißt du nicht, was I.W.N. heißt? Das heißt ‚Ich weiß nicht‘.“
„Ich weiß, was das heißt. Ich war nur einfach erstaunt, dass du deine Nummer nicht kennst. Übrigens, niemand redet in diesen Abkürzungen, Mom. Sie sind nur für Textnachrichten gedacht.“
„L.O.L.“, tat meine Mutter ihre Erheiterung kund. „M.O.M.“, antwortete ich.
Wir lachten beide.
„Hör zu“, sagte sie, fügte aber nichts hinzu.
„Ich höre zu.“
„Rate mal, wen ich neulich getroffen habe?“
„Mit der Motorhaube deines Wagens?“
„Du bist ein Schlaukopf“, sagte meine Mom.
„I.W.N., wen hast du also getroffen?“
Sie stockte. Ich wartete auf das Geräusch von klirrendem Glas und krachendem Metall, aber sie war wohl nur in eine Parklücke gefahren und hatte nicht etwa einen Telegrafenmast erwischt.
„Austins Mutter.“
„Ach?“ Eine andere Erwiderung fiel mir dazu nicht ein.
Das Leben ist wirklich voller Zufälle.
„Sie lässt dich grüßen.“
„Aha.“ Soweit ich wusste, war Mrs Miller froh gewesen, als Austin und ich uns getrennt hatten.
„Zieh nicht so ein Gesicht, wenn ich mit dir rede, Paige.“ „Du kannst nicht wissen, was ich für ein Gesicht mache.“ „Ich bin deine Mutter. Ich muss dich nicht sehen, um zu wissen, dass du die Nase kraus ziehst. Eines Tages wirst du schreckliche Krähenfüße haben.“
„Um meine Nase herum?“
„Und rate, was sie gesagt hat?“
Ich wartete, während sie mit den Neuigkeiten vor meiner Nase herumwedelte wie mit Käse vor einer Ratte.
„Sie hat mir erzählt, dass er dort hinauf gezogen ist. Dahin, wo du jetzt wohnst.“
Nun, immerhin hatte ich einen Moment lang vergessen, mit hungrigen Augen den Umschlag anzustarren. „Weißt du, Harrisburg liegt nicht im Ausland. Es ist nur vierzig Minuten Fahrzeit entfernt.“ Ich bemühte mich, keinen scharfen Ton anzuschlagen, aber ich klang trotzdem genervt.
Das war meiner Mutter egal.
Weitere Kostenlose Bücher