Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte
richtigen Regengüsse in diesem Herbst tragen auch nicht gerade dazu bei, die Stimmung zu heben. Außerdem ist Carl heute nicht erschienen.
Er hat bereits früher das eine oder andere Treffen versäumt. Jeder von uns hat das. Doch heute Abend ist Halloween, darum sind wir alle ein wenig paranoid. Es ist ja schon schlimm genug, dass man uns zu schaurigen Archetypen stilisiert hat, die dazu dienen, dass die Kinder am gruseligsten Tag des Jahres sich selbst und anderen einen gehörigen Schrecken einjagen, doch dann hört man auch noch Geschichten von Atmern, die an Halloween durch die Gegend fahren und herumirrende Zombies niedermetzeln oder ihnen Knallfrösche in die Körperöffnungen stopfen.
Dennoch lässt sich keiner das Ereignis entgehen. Sich zu verkleiden kann eine therapeutische und ermutigende Wirkung haben, indem man so tut, als wäre man jemand oder etwas anderes. Außerdem ist es eine gute Tarnung. Wer rechnet schon damit, dass Zombies sich an Halloween verkleiden?
Helen ist als gute Fee kostümiert, inklusive blauen Haaren, Flügeln und Diadem. Auf der Tafel hinter ihr, unter
dem Schriftzug HAPPY HALLOWEEN! und ein paar Comic-Fledermäuschen steht: MAN DARF DIE HOFFNUNG NIE AUFGEBEN.
»Tief einatmen«, sagt Helen, während sie uns durch eine geleitete Meditation führt. »Und jedes Mal, wenn ihr ausatmet, atmet auch all eure Ängste und Sorgen aus.«
Jerry, der auf dem Stuhl neben mir sitzt, ist eingeschlafen. Sein Kostüm besteht aus nichts weiter als einer roten Jogginghose, einem roten langärmeligen T-Shirt und einer roten Strickmütze, an der mit einem Gummiband ein Paar Teufelshörner befestigt sind. Außerdem hat er sein Gesicht rot angemalt- allerdings ist kaum zu erkennen, wo die Farbe aufhört und seine Schürfwunden anfangen.
»Leert euren Kopf von allen Gedanken«, sagt Helen, während sie durchs Zimmer schreitet, in einem sanften, unerträglichen Flüsterton. »Stellt euch nichts weiter als eine leere Fläche oder eine Leinwand ohne Bild vor.«
Wir sollen unsere Augen während der Meditation geschlossen lassen, damit wir uns besser konzentrieren können. Doch ich habe eines meiner Lider geöffnet, um zu schauen, was die anderen treiben. Nicht, dass ich das, was Helen tut, nicht respektiere, aber alles, worauf ich mich konzentrieren kann, ist der Regen, der auf das Dach des Bürgerzentrums prasselt, und Jerrys Schnarchen.
Rita sitzt mir direkt gegenüber. Sie trägt einen schwarzen Badeanzug, Häschenohren, und hat einen Lippenstift in Satin Red aufgelegt - das meiste davon hat sie wie üblich während der Meditation abgelutscht. Ein weißes Hundehalsband und Lederarmbänder verbergen ihre Narben. Sie sieht einfach wie ein Playboy Bunny aus.
Sobald die Meditation beendet ist, klingelt Helen mit einer kleinen Glocke, und ich versetze Jerry einen Schubser, damit er aufwacht.
»Möchte einer von euch vielleicht erzählen, wie er sich nach der Sache mit Walter fühlt?«, fragt Helen.
»Das war echt Scheiße«, sagt Jerry. »Ich finde, wir sollten diesen Verbindungstypen die Fresse polieren.«
Naomi, die sich mit einem Kopftuch, einem schwarzweiß gestreiften Hemd und einer Klappe über ihrer leeren Augenhöhle als Pirat verkleidet ist, nickt heftig und zustimmend. »Er hat Recht.«
»Ja?«, fragt Tom.
Er hat sich komplett weiß angemalt, eine Toga über die Schultern geworfen und trägt auf dem Kopf einen Lorbeerkranz. Wenn er vollkommen still hält, sieht er aus wie eine römische Statue.
»Nein, hat er nicht«, sagt Helen. »Sobald euch jemand entdeckt, ruft er die Dienststelle des Sheriffs an, und eins fix drei hockt ihr alle gefesselt auf der Ladefläche eines Transporters, der euch zur SPCA kutschiert.«
»Oder zu Dr. Frankenstein«, sagt Rita.
Das wäre passend, denn ich bin als Frankensteins Monster verkleidet. Mom hat im Second-Hand-Laden einen alten Anzug gekauft und mich sogar geschminkt. Ich wirke ziemlich überzeugend, was mich nicht gerade in Begeisterung versetzt, denn das Monster wird am Ende von einer Meute aufgebrachter Dorfbewohner in Brand gesteckt.
Die nächsten dreißig Minuten versuchen wir uns gegenseitig Mut zu machen, indem wir darüber diskutieren, was wir für Maßnahmen ergreifen und wie wir einander helfen können, mit dem Tod einer unserer eigenen Leute fertig zu werden. Allerdings ist es nicht das erste Mal, dass wir ein
Mitglied verloren haben. Wir hatten mal ein Brandopfer in der Gruppe, einen jungen Burschen namens Spencer, der, als er noch unter
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