Anständig essen
dem Lege-Knast befreit hätte. Ich habe gerade das Grab wieder zugeschaufelt und will den Spaten zurück in den Schuppen bringen, als mir die Postbotin ein Paket in die schmutzigen Finger drückt. Ich schrubbe mir erst mal gründlich die Hände. Im Paket liegt das versprochene Buch von Anko Salomon, dem Vorsitzenden der Naturangesellschaft. Es heißt »Leben – ohne Tiere und Pflanzen zu verletzen oder zu töten«. Als Autor ist ein A. Wang angegeben, aber da es sich um eine praktische Anleitung zur Ausübung des Naturanismus handelt, gehe ich schwer davon aus, dass es sich bei A. Wang um ein Pseudonym von Herrn Salomon handelt.
Der Naturanismus unterscheidet sich von der veganen Lebensweise einerseits darin, dass außer Tieren auch keine Pflanzen verletzt oder getötet werden dürfen, und andererseits darin, dass der Autor davon ausgeht, dass es möglich sei, Tiere unter Berücksichtigungihrer individuellen Lebensbedürfnisse so zu halten und zu nutzen, dass sie nicht darunter leiden. »Es ist durchaus möglich, auf tierische Produkte zu verzichten, allerdings sollte dies nicht auf Kosten der Pflanzen geschehen, denn pflanzliches Leben wegen seiner Andersgestaltigkeit als geringer zu beurteilen, entspricht lediglich bewertenden Kategorienbildungen, unter denen Menschen, Tiere und Pflanzen schon immer zu leiden gehabt haben.« Milch und Milchprodukte können nach Auffassung des Naturanismus schließlich auch gewonnen werden, wenn man das Kälbchen zuerst trinken lässt und lediglich die Überschüsse nimmt, die sich dann noch melken lassen. Honig und Blütenpollen lassen sich in Maßen gewinnen, ohne dass die Bienenvölker dafür rigoros ausgebeutet werden müssten, und Eier von Hühnern aus Freilandhaltung zu nehmen sei vertretbar, wenn man auch dem Bedürfnis der Hühner zu brüten Rechnung trägt, gute Haltungsbedingungen schafft und den Hühnern eine Versorgung bis zum natürlichen Tod bietet. Die Ernte von Früchten ist ja sowieso problemlos und bei Getreide vertritt Herr Salomon, beziehungsweise Herr Wang, die Meinung, dass die Getreidepflanzen bei der Ernte bereits abgestorben seien. Es bestehe also überhaupt keine Notwendigkeit, pflanzliche Lebewesen zu verletzen oder zu töten, weil sie uns durch die Bereitstellung von Sauerstoff, Fruchtfleisch und Samen bereits umfassend versorgt haben. Außerdem beinhaltet das Buch Abhandlungen über die Gleichwertigkeit aller Spezies, das Wesen von Tier und Pflanze, Anleitungen zur Lebensmittelverarbeitung und praktischen Haushaltsführung, Survivaltipps, seitenweise Rezepte und Menüvorschläge, einen psychologischen Fragebogen zur Analyse der Lebensgestaltung, Tipps zum Umgang mit Depressionen, Suchtverhalten und Übergewicht,Empfehlungen zur Krankheitsbehandlung nebst einer Liste nützlicher Hausmittel, Rezepte für Gesichtsmasken und Badezusätze – kurz: alles, was man für ein gutes, gewaltloses Leben so wissen muss.
Jiminy ist aus Köln zurück. Sie hat drei Kilo zugenommen und will mit mir ein paar Tage frutarisch leben, damit die Jeans wieder passt. Ich habe nämlich bereits nach zwei Wochen Frutarismus vier Kilo abgenommen. Was deutlich motivierender ist als die zwei Kilo, die ich nach vier Monaten veganer Ernährung weniger wog. Jiminy kocht für uns eine Kürbissuppe mit Kokosmilch. Kürbis ist Gemüsefrucht, Kokosnuss ist ja wohl Nuss, Salz lebt nicht, und Pfefferkörner sind Samen. Zu meinem Erstaunen lässt sich ein richtiges Mittagessen aus rein frutarischen Zutaten bereiten. Und es schmeckt sogar.
Am Nachmittag wirft Jiminy ihre Diätpläne wieder über Bord, als sie ganz hinten in meinem Kühlschrank einen Fertigteig findet, der eigentlich einmal für eine vegane Pizza gedacht war. Sie fängt an, den Teig mit Tomaten zu belegen.
»Ermordeter Weizen«, sage ich, »von den Abertausenden Mäusen, Igeln, Hamstern, Hasen und Rehkitzen, die dabei in die Mähdrescher geraten sind, mal ganz zu schweigen.«
Daraufhin geht Jiminy aus dem Haus und setzt sich ins Auto. Nach einer halben Stunde kommt sie mit einer Supermarkttüte zurück und holt ein Stück Käse heraus, mit dem sie ihre Pizza überbacken will.
»Bizarr«, sage ich. »Ich muss darüber nachdenken, ob ich es dulden kann, dass so etwas in meinem Herd gebacken wird.«
Kurz darauf erfüllt der Geruch von Käsepizza die Küche, und ich flüchte in mein Arbeitszimmer. Leidersind es nicht Ekelgefühle, vor denen ich Reißaus nehme. Als ich später wieder herunterkomme, rattert Jiminy mit dem
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