Anständig essen
ein paar Tofuwürstchen und Dinkelburger für uns, aber deswegen kann ich ihr das herzlose Verhalten gegenüber Fischen ja nicht durchgehen lassen. Jiminy macht ein gequältes Gesicht und tritt wie ein hospitalistischer Elefant von einem Bein auf das andere.
»Hm, jaja, ist mir schon klar … allerdings steckt der Haken an einer Stelle, die nicht so schmerzempfindlich ist …«
»Ich weiß, ihr Angler behauptet ja immer, dass Fische ein völlig anderes Nervensystem haben und deswegen gar keine richtigen Schmerzen empfinden können.«
»Sag ich doch gar nicht. Ich hab bloß gesagt, dass der Haken an einer Stelle steckt, wo es dem Fisch weniger wehtut.«
Zwei fette Fliegen brummen durch die Küche, obwohl draußen immer noch Schnee liegt. Sie sind viel langsamer, als Fliegen normalerweise sind, und eine brummt mir in Schlangenlinien entgegen, prallt frontal gegen meine Stirn und fällt dann zu Boden. Angeekelt laufe ich ins Badezimmer, um mir das Gesicht zu waschen. Die Fliege werfe ich dem begeisterten Piepsi in den Käfig.
»Also erstens«, sage ich, als ich zurückkomme, »kannst du gar nicht kontrollieren, wo der Haken stecken bleibt – womöglich kommt er am Auge wieder heraus –, und zweitens hat der Schmerz als Warn- und Leitsignal für jedes Tier die lebenswichtige Funktion, Gewebeschädigungen zu vermeiden.«
Für den Menschen gilt das natürlich auch. Lepra-Kranke, zum Beispiel, verlieren ihre Finger und Zehen nicht deswegen, weil sie abfaulen, wie immer wiedergern geglaubt wird, sondern weil die Krankheit die Nerven in den Extremitäten absterben lässt. Lepra-Kranke können dort keine Schmerzen mehr empfinden, bemerken nicht, wenn sie sich verletzen, und selbst, wenn sich die Verletzung nicht mehr übersehen lässt, messen sie ihr keine Bedeutung bei. Es tut ja schließlich nicht weh. In die unversorgte Wunde gelangen Erreger, und plötzlich fehlt schon wieder ein Zeh. Ein Kind, das mit einer seltenen genetischen Schmerzunempfindlichkeit geboren wird, ist bereits im Vorschulalter mit Narben übersät und hat eine deutlich verringerte Lebenserwartung. Wenn es also bereits für einen Menschen, den man ja wenigstens dick in Schutzkleidung einpacken und instruieren kann, dass er seine Finger nicht in der Tür einklemmen darf, so fatal ist, keine Schmerzen zu empfinden, wie katastrophal muss dieses Unvermögen dann erst für einen Fisch sein.
»Ein Tier, das keine Schmerzen empfindet, hat in freier Wildbahn keine Überlebenschance«, sage ich zu Jiminy.
»Ich behaupte doch gar nicht, dass Fische keine Schmerzen haben. Tu ich doch gar nicht. Ich sag doch bloß …«
»Warum sollte das Leiden eines Fisches nicht mit dem eines Menschen vergleichbar sein? Wenn du ihn abstichst, blutet er nicht? Wenn du nach ihm greifst, versucht er nicht, dir zu entkommen? Wenn …«
»Ist ja schon gut«, sagt Jiminy gereizt. »Ich geh dieses Jahr doch sowieso nicht angeln.«
In diesem Moment kommt Michi herein. Michi ist der Sohn von Beate und außerdem ist er Zimmermann. Er will uns ein Küchenregal anbringen, ist aber einverstanden, erst mal mit uns zu essen. Die andere dicke Fliege prallt gegen Michis Stirn.
»Äh, was habt ihr denn hier für ’n Viehzeug?«
»Irgendwo in den Balken muss es ein Nest mit Fliegeneiern geben. Jeden Tag schlüpfen neue.«
»Das liegt an dem da«, sagt Michi und zeigt mit dem Daumen auf den stinkenden Piepsi, der hinter den Gitterstäben seiner Luxus-Legebatterie auf und ab hüpft und gierig auf die abgestürzte Fliege starrt. Michi ist ebenfalls Angler. Seltsamerweise sind alle Angler, die ich kenne, besonders nette Menschen. Friedliebend, naturverbunden und mit einer ausgeprägten Sehnsucht, an Gewässern herumzulungern. Warum diese Neigung bei ihnen ausgerechnet an das hinterlistige und grausame Fangen von Fischen gekoppelt sein muss, bleibt mir ein Rätsel. Michi ist noch verrückter als Jiminy Grille. Er fährt bis nach Frankreich, um dort an irgendwelchen abgelegenen und mückenverseuchten Seen riesigen, uralten Karpfen nachzustellen. Er findet sie mit Echolot und mästet sie tagelang mit selbst gebackenen Ködern. Einige seiner Köderkekse haben Blaubeer- oder Marzipangeschmack. Ernsthaft! Wenn Michi so einen 15- oder 20-Kilo-Fisch dann tatsächlich ausgetrickst und gefangen hat, unterzieht er ihn einem Gesundheitscheck, entfernt Parasiten und versorgt mit seinem Fischmedikamentenköfferchen eventuelle Wunden, die so ein Karpfen sich bei einem Zusammentreffen mit einem Otter
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