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Anti-Eis

Anti-Eis

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floß und zwanglose Konversation betrieben wurde,
gemahnten mich jetzt an das Innere eines von Lord Nelsons
Linienschiffen. Artilleriegeschütze schoben sich wie
Hundeschnauzen durch in die Hülle gebrochene Stückpforten,
und überall stank es nach Kordit, waberten
Formaldehyddämpfe und stapelten sich Bandagen eines
improvisierten Feldlazaretts. Ich gelangte in den Großen Salon
– oder das, was davon noch übrig war; wo ursprünglich
der durch schmuckvolle Blenden kaschierte Schornstein durch den Raum
verlaufen war, gab es jetzt nur noch einen obszön klaffenden
Kamin, und das Interieur des Salons war geschwärzt und
zerstört. Aber bewaffnete Männer und Frauen liefen
zielstrebig umher. Die künstlerisch wertvollen, indes
beschädigten und verkohlten Paneele wirkten absolut deplaziert
in einem Szenario, das ihre Meister sich wohl niemals hätten
vorstellen können.
    Aber es gab keinen Hinweis auf Françoise. Meine Anspannung
und Besorgnis näherten sich dem Siedepunkt.
    Ich kletterte wieder auf das Promenadendeck. Als ich über die
Reling auf das unter uns liegende Feld schaute, sah ich, daß
die ungeordneten französischen Formationen und die Preußen
sich bereits gegenseitig mit Gewehrfeuer beharkten. Ständig
pfiffen Granaten über uns hinweg und tränkten durch ihre
Detonationen die Erde mit dem Blut der Franzosen. Die Kanonen der Albert hatten jetzt ebenfalls zu sprechen begonnen; und mit
jedem abgefeuerten Schuß lief ein Beben und Zittern durch die
fragile Struktur des Schiffes.
    Dann hörte ich, wie den Ton einer Oboe inmitten der
Klangfülle eines großen Orchesters, Traveller meinen Namen
rufen.
    Ich blickte zur Phaeton zurück. Als der Ingenieur sah,
daß wir Augenkontakt hatten, deutete er nach oben.
    Mit schmalen Augen sah ich ins Sonnenlicht und machte einen
weißen Strich aus, wie eine sehr dünne Wolke, der sich
über den Himmel zog und eine gekrümmte Bahn am Kleinen Mond
vorbei beschrieb. Die Linie wurde länger, als ob sie von der
Hand Gottes gezogen würde… und sie überflog unser
Schlachtfeld in Richtung Orleans. Diese Erscheinung war völlig
geräuschlos und wurde von den kämpfenden und
verängstigten Soldaten am Boden überhaupt nicht
wahrgenommen.
    Die Botschaft war klar. Es handelte sich um eine Anti-Eis-Rakete.
Das Herz wurde mir schwer, nicht nur vor Angst, sondern auch vor
Scham, Brite zu sein.
    Ich schüttelte den Kopf und konzentrierte mich wieder auf das
zunehmende Chaos um mich herum, und ich fragte mich, wie ich meine
Suche in der kurzen Zeitspanne abschließen sollte, welche die
Anti-Eis-Granate mir noch ließ.
    Ich erspähte den weiblichen ›Soldaten‹, der mir
schon früher aufgefallen war. Dieses Flintenweib hatte sich nun
an der Bugreling postiert, das Gewehr angelegt und zielte auf die
Preußen. Ich beschloß, sie anzusprechen. Sicherlich
würden die paar an Bord des Schiffes verbliebenen Frauen
ungeachtet ihrer Einstellung zu diesem Konflikt einander helfen und
unterstützen; und so würde diese moderne Jungfrau von
Orleans mir vielleicht den Weg zu Françoise weisen
können, deren Rettung das einzige war, was mich in diesem ganzen
Chaos überhaupt bewegte!
    Ich machte mich zum Bug auf. Es war ein langsames Vorankommen. Im
Blutrausch befindliche Franzosen hetzten von einer Seite des Schiffes
auf die andere und rannten mich mehr als einmal über den Haufen.
Derweil explodierten ständig preußische Granaten in der
Luft, und alle paar Sekunden war ich gezwungen, mich zu ducken oder
flach auf die Decksplatten zu werfen.
    Doch schließlich erreichte ich die Amazone, die mittlerweile
mit klinischer Präzision feuerte, und als ich ihr die Hand auf
die Schulter legte, drehte sie sich zu mir um und fuhr mich in
schnellem Marseille-Dialekt an: »Verdammt? Was wollt Ihr?«
Dann brach ihre Stimme ab, und ihre Augen wurden zu Schlitzen –
himmelblaue Augen, die selbst hinter der Maske aus Schmutz noch
lieblich waren.
    Ich trat einen Schritt zurück, wobei ich die einschlagenden
Granaten überhaupt nicht mehr registrierte.
»Françoise? Seid Ihr das?«
    »Wer denn sonst? Und wer, zum Teufel… ah, ich erinnere
mich. Vicars. Ned Vicars.« Ihr Gesicht schien vor mir
zurückzuweichen, als ob ich sie durch ein umgedrehtes Fernglas
betrachtete; mein Gesicht war starr, und der Schlachtenlärm
schien weit entfernt.
    Es stimmte also. Was Holden bereits vermutet hatte, was Traveller
mit seinem scharfen Verstand deduziert hatte, was ich in meiner
närrischen Naivität nicht hatte wahrhaben

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