Anti-Eis
die Platinnase war nämlich
abgerissen worden, und die klaffende Höhlung war eine schwarze
Grube, aus der noch immer Blut tröpfelte. Mit kalten Augen
musterte er mich flüchtig über dieses Loch hinweg –
dann riß er an den Steuerhebeln, und die Phaeton schoß, ohne die Startfreigabe abzuwarten, in die Luft.
Doch selbst während des Steigfluges wurde die Brücke von
Licht durchflutet. Ich klammerte mich an das Deck, während das
Luftschiff in der turbulenten Luft wie ein scheuendes Pferd
bockte!
Die Dewars der Albert waren geborsten. Die in ihnen
gespeicherte Anti-Eis-Energie wurde explosionsartig freigesetzt, und
die fragile Struktur des Kreuzers platzte wie eine Papiertüte.
Eine heiße Druckwelle wie der Hauch der Hölle schoß
nach oben, holte die Phaeton ein und wirbelte sie wie ein
Herbstblatt über einem Freudenfeuer durch die Luft. Längere
Zeit kämpfte Traveller mit der Steuerung, und ich konnte nur
abwarten, wobei ich glaubte, daß wir sicherlich kippen und auf
dem Erdboden zerschellen würden.
… Aber langsam, wie sich ein Sturm legt, beruhigte sich die
aufgewühlte Luft. Die Phaeton rollte nur noch sanft, und
am Schluß stabilisierte sie sich wieder.
Ich stand vorsichtig auf; ich hatte das Gefühl, daß
jeder Zoll meines Körpers systematisch weichgeklopft worden
wäre, aber dennoch war ich intakt und heil, und wieder dankte
ich Gott für meine Errettung.
Traveller wandte mir sein schrecklich entstelltes Gesicht zu.
»Seid Ihr in Ordnung?«
»Ja. Ich… Françoise ist ein
Franktireur.«
»Ned, sie ist jetzt sicher tot. Aber sie hat ihren Weg selber
gewählt… was auch ich tun muß«, fügte er
düster hinzu.
Ich schaute zur Glaskuppel hinaus. Die französischen und
preußischen Infanteristen waren nun zusammengestoßen.
Unter uns entfaltete sich eine Arena aus Staub, vergossenem Blut und
tausend kleinen Explosionen: Es war ein Schlachtfeld, von dem wir
gnädigerweise so weit entfernt waren, daß die Schreie der
Verwundeten und der Gestank des Blutes uns nicht erreichten.
Traveller deutete auf eine Stelle zu seiner Linken. »Schaut.
Könnt Ihr es sehen? Die Flugbahn von Gladstones Londoner
Granate.«
Ich sah zum Himmel auf. Ich verengte die Augen zu schmalen
Schlitzen und konnte so den seltsamen Dampfstreifen ausmachen, der
sich über den Himmel zog und jetzt etwas ausfaserte. War es
wirklich erst ein paar Minuten her, seit ich auf dem Deck der Albert gestanden und diese Spur beobachtet hatte?
»Traveller, was ist ihr Ziel?«
»Nun, sie ist sicher für das Schlachtfeld bestimmt.
Welche günstigere Möglichkeit könnte es geben, das
Mißfallen Seiner Majestät zu bekunden, als den Stolz
Preußens und Frankreichs mit einem Schlag plattzumachen? –
aber Gladstones Dilettanten haben versagt. Sie haben die Entfernung
falsch berechnet. Ich wußte, daß ich zuhause bleiben
sollte, um die Sache richtig anzufangen. Ich wußte
es…«
Seine Stimme war zwar fest und vernünftig, aber es schwang
ein seltsamer Unterton mit; und ich spürte, daß er bald
die Nerven verlieren würde. »Traveller, vielleicht ist die
falsche Flugbahn der Granate ein Segen. Wenn sie, ohne Schaden
anzurichten, in unbewohntem Gebiet einschlägt…«
»Ned, die Granate verfügt über einen
Dewar-Spreng-kopf mit mehreren Pfund Anti-Eis. Er wird auf jeden Fall
Schaden anrichten… und überhaupt habe ich ihren Kurs lange
genug verfolgt, um zu wissen, wo sie niedergehen wird.«
»Wo?«
»Es kann jetzt jede Sekunde geschehen, Ned; Ihr solltet die
Augen beschirmen.«
»Wo, verdammt?«
»…Orleans.«
Zuerst erschien eine ästhetische Blume aus Licht, die vom
Kern der alten Stadt radial in alle Richtungen expandierte. Als sie
verblüht war und wir unsere geblendeten und tränenden Augen
wieder öffnen konnten, sahen wir, daß nach dem Licht ein
heftiger Wind über die Ebene fegte; Bäume knickten wie
Streichhölzer, und Gebäude fielen in Schutt und Asche.
Wenige Sekunden nach dem Einschlag bildete sich eine große
Wolke über dem Stadtzentrum. Die Wolke stieg himmelwärts,
ein monströser, aus dem Boden wachsender Pilz, der sich mit
zunehmender Höhe schwarz einfärbte. Von unten wurde er
durch ein höllisches rotes Glühen angestrahlt –
zweifellos das brennende Orleans – und von oben durch eine
wabernde Wolke zuckender Blitze.
Das alles lief völlig geräuschlos ab.
Ich bemerkte, daß die gegeneinander anrennenden Armeen unter
uns die Kampfhandlungen eingestellt hatten und daß ihre
Geschütze schwiegen; ich
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