Anti-Eis
und gläserne Lauben
aneinandergereiht, und ich konnte eine Kapelle ausmachen; ein kleines
Orchester, dessen Klänge durch die stille Luft drifteten.
Nun näherten wir uns einem der Räder; ich schaute zu
einem Zentralverschluß hoch, der breiter war als ich; und die
Speichen wurden durch faustgroße eiserne Schrauben fixiert.
»Unglaublich, Holden«, schwärmte ich, »jedes
dieser Räder muß ja die vierfache Höhe eines Menschen
haben!«
»Ihr habt recht«, sagte er. »Das Schiff mißt
vom Bug bis zum Heck über siebenhundert Fuß, mit einer
größten Breite von achtzig Fuß und einer Höhe
von sechzig Fuß vom Kiel bis zum Promenadendeck. In
Größe und Wasserverdrängung – achtzehntausend
Tonnen – konkurriert das Fahrzeug mit Brunels großen
Ozeandampfern… Jedes einzelne Rad wiegt allein
sechsunddreißig Tonnen!«
»Es ist ein Wunder, daß das Schiff nicht in die Erde
einsinkt, wie ein überladener Karren auf einer morastigen
Straße.«
»Ja. Aber wie Ihr seht, sind die Räder mit einer
einfallsreichen Vorrichtung versehen worden, um das Gewicht des
Fahrzeuges gleichmäßig zu verteilen.« Und wirklich
sah ich, daß die Laufflächen aller Räder mit drei
breiten Paddeln aus Eisen bestückt waren; wenn das Schiff sich
bewegte, würde es ständig diese mobilen
Straßenabschnitte in Fahrtrichtung verlegen.
Wir arbeiteten uns durch die das Schiff umstehende Menge. Die
Räder und die steilhangartig über mir hängende Wandung
vermittelten mir das Gefühl, als Insekt neben einem großen
Karren zu schweben, und Holden fuhr fort, verschiedene konstruktive
Wunder aufzuführen. Aber ich gestehe, daß ich weder
richtig zuhörte noch Travellers Triumph mit der gebührenden
Aufmerksamkeit studierte. Denn meine Augen suchten die Menge
permanent nach einem Gesicht ab, einem einzigen Gesicht.
Schließlich sah ich sie.
»Françoise!« rief ich und winkte ihr über
die Köpfe der mich umgebenden Leute zu.
Sie befand sich in einer kleinen Gruppe, die langsam eine Gangway
hinaufging, welche in ein dunkles Unterdeck des Schiffes führte.
Zu dieser Gruppe gehörten eine Reihe Stutzer und andere modisch
gekleidete junge Herren. Nun wandte Françoise sich um und
nickte mir, als sie mich erspähte, kurz zu.
Ich schob mich durch die parfümierte Menge.
Holden folgte konsterniert. »Wie schön muß doch
die Jugend sein«, kommentierte er nicht unfreundlich.
Wir erreichten den Aufgang. »Mr. Vicars«,
begrüßte Françoise mich. Sie hob eine von einem
Spitzenhandschuh verhüllte Hand, um ein Lächeln zu
verbergen, und ihre Mandelaugen verschwanden unter ihrem
Sonnenschirm. »Ich hatte schon erwartet, daß wir uns
wiedersehen.«
»Wirklich?« fragte ich atemlos und errötete.
»In der Tat«, kommentierte Holden trocken. »Welch
eine unwahrscheinliche Koinzidenz es ist, daß Ihr beide –
au!«
Ich hatte ihn getreten. Holden war auf seine Art ja ein
amüsanter Kerl, aber es gibt eben Zeitpunkte und Orte…
Ihr Kleid war aus leichter blauer Seide und am Hals dezent
ausgeschnitten; es betonte ihre Hüfte derart, daß ich
glaubte, sie mit einer Hand umfassen zu können. Das durch den
Sonnenschirm gefilterte morgendliche Sonnenlicht spielte in ihrem
Haar.
Einige Sekunden lang stand ich nur da und gaffte wie ein Narr.
Dann versetzte Holden mir seinerseits einen Tritt, und ich riß
mich zusammen.
Nun trat einer der Gecken vor und verneigte sich mit
lächerlich wirkender Eleganz. »Mr. Vicars, habe erneut die
Ehre.« Der Bursche trug einen kurzen, hellroten Mantel über
einer schwarzgelb karierten Weste mit schweren Messingknöpfen;
seine hohen Stiefel waren hellgelb, und ein duftendes
Blumensträußchen zierte das Revers. Das war natürlich
alles ganz modisch, aber trotzdem verspürte ich eine stille
Erleichterung, daß ich – zusammen mit Françoise
– etwas dezenter kostümiert war. Aus der bunten Menge
starrte mich ein dunkles Frettchengesicht an, und für einen
Moment suchte ich nach dem Namen. »Ah. Monsieur Bourne. Welch
ein Vergnügen.«
Er runzelte spöttisch die Stirn. »Oh, in der
Tat.«
Françoise stellte mich ihren anderen Begleitern vor –
stattlichen jungen Männern, deren Gesichter und Namen an mir
vorbeiglitten, ohne daß ich sie mir einprägte.
Ich wandte mich ihr zu. Ich hatte mir einige feinsinnige Bonmots
aus der aktuellen Literaturszene für sie zurechtgelegt – Die Zwei Nationen, Disraelis dystopische Zukunftsphantasie
– aber dann wurde ich von Frédéric Bourne
unterbrochen, der sagte: »Ich
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