Anti-Eis
Mittelpunkt dieses
Kessels befindet sich ein Dewar-Behälter«, dozierte sie mit
Elan. »Wie Ihr sicher wißt, enthält ein solcher
Behälter ein zwischen zwei Glaswänden eingeschlossenes
Vakuum und ist innen und außen versilbert, wodurch verhindert
werden soll, daß aufgrund von Leitung, Konvektion oder
Strahlung ein Wärmetransfer ins Innere des Behälters
stattfindet. Und die im Behälter herrschende Temperatur wird
durch Kühlwicklungen um die Außenwandung auf arktisches
Niveau gesenkt.«
Holden beugte sich dicht zu mir herüber, wobei seine
Knollennase rot in der Hitze glühte. »In der Tat eine
ungewöhnliche Debütantin.«
Françoise erklärte nun anschaulich, wie Splitter des
im Behälter deponierten Anti-Eis durch ein ausgefeiltes System
aus Greifern und Kolben in eine kleine Vorkammer befördert
wurden, dort ihre gewaltige Energie dosiert abgaben und so jede
Minute Hunderte Gallonen Wasser in Wasserdampf umwandelten.
»Ohne eine derart konzentrierte Energie«, schloß sie,
»wäre es kaum möglich, Maschinen mit der Leistung zu
betreiben, die für den Antrieb dieses Landkreuzers erforderlich
sind.«
»Bravo!« rief ich und applaudierte. »Wie klar Eure
Erläuterungen sind. Und nun«, ergänzte ich, ging an
den Franzosen vorbei und näherte mich Françoise,
»begreife ich auch, warum dieser Ort so bemerkenswert sauber
ist. Denn wegen der Anti-Eis-Öfen werden keine
Kohlebefeuerungsanlagen mehr benötigt, die ja solche
Dreckschleudern sind.«
Ich war ziemlich stolz auf diese Deduktion.
Françoise musterte mich unter langen Wimpern.
»Trefflich gesagt, Mr. Vicars.«
»Ned, bitte«, sagte ich glutrot.
Jetzt wandte sie sich ab, um ein Gespräch zwischen Holden und
unserem Führer zu verfolgen. Holdens Finger zeichneten den
Verlauf der sich um die Dampfrohre windenden Messingröhren nach
und verhielt bei einem Absperrhahn direkt über dem Kessel. Dever
nickte und sagte: »Diese Röhren dienen dazu, die
Abwärme der Hauptrohre abzuführen«, und dann verfiel
er in einen langen Monolog über Schreckensszenarien für den
Fall, daß die Absperrhähne blockierten und die Röhren
trockenfielen, und daß Traveller die Warnungen seiner
Ingenieure bezüglich dieser Gefahr mißachtet hatte, nur um
eine höhere Leistung aus den Maschinen herauszuholen…
Und so weiter, in aller düsteren Ausführlichkeit. Die
Franzosen gähnten hinter ihren manikürten Händen. Und
ich… ich hatte nur Augen für Françoise. Ich
betrachtete ihren grazil geschwungenen Rücken, die lautlosen
Bewegungen ihrer Hände auf dem zusammengefalteten Sonnenschirm
und fragte mich verliebt – wenn auch etwas unwissenschaftlich
–, ob im Dewar-Behälter ihres züchtigen
Äußeren nicht vielleicht eine Flamme der Sehnsucht
brannte, die ich entfachen konnte!
Schließlich fand unsere Exkursion zu meiner Erleichterung
ein Ende, und wir wurden wieder an Deck der Albert geführt. Aber anstatt das Schiff zu verlassen, gingen wir
über eine spektakuläre Freitreppe hinauf zu den
Passagierdecks des Schiffes. Die Stufen des Aufgangs bestanden aus
kaum einen Fuß breiten Eisenflächen – fein gegossen,
wobei der Name der Gießerei von einem filigranen Muster
eingefaßt war – und der Aufgang war fest mit der
weiß gestrichenen Wandung verbunden. Die belgische Landschaft
entfaltete sich vor meinen Augen, und ich konnte erkennen, daß
die Festivitäten in den Bars und Tavernen der auf
Spielzeuggröße geschrumpften Budenstadt noch andauerten;
als ich nach unten blickte, sah ich münzgroße Gesichter,
die staunend zu uns aufschauten. Aber ich verspürte kein
Schwindelgefühl, denn dieser gefährliche Aufgang wurde von
einer Glasröhre umschlossen, die selbst den Wind fernhielt, der
so hoch über dem Boden mit Sicherheit stärker wehen
mußte.
Am oberen Punkt der Freitreppe betraten wir erneut das Innere des
Schiffes. Wir passierten eine schmale Arkade, einen hellen und
luftigen Ort, der von schlanken eisernen Säulen gesäumt
wurde und dessen Boden aus in Blei eingefaßten dicken
Glasfliesen bestand. Und dann verließen wir die Arkade und
betraten den Großen Salon der Prince Albert.
Diese großartige Halle erstreckte sich über die ganze
Breite des Schiffes. Sie war angefüllt mit dem Stimmengewirr von
über tausend Leuten, die alle modisch gekleidet waren und sich
wie Pfauen spreizten. Etwas verlegen inspizierte ich mein Jacket; es
war nach wie vor sauber, wenn auch durch die Hitze leicht
zerknittert.
Ein Steward näherte sich uns mit einem
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