Anti-Eis
in unserem Himmelsgefängnis
ist. Wie Ihr wißt, war es nämlich die Politik, die uns
hierher verschlagen hat.«
Traveller zuckte die Achseln. »Womit wieder einmal bewiesen
wäre, daß es nichts Beschränkteres gibt als die
menschliche Vorstellungskraft.«
»Und, Sir«, zischte Holden, »Ihr seid anscheinend
ein genauso verdammter Anarchist wie Bourne.«
Ich suchte schon die ganze Zeit nach einer Möglichkeit, diese
Auseinandersetzung zu beenden, und nun fühlte ich mich
veranlaßt zu sagen: »Nur mit der Ruhe, Holden; ich glaube,
Ihr solltet das zurücknehmen.«
Aber Traveller legte eine Hand auf meinen Arm und hielt mich
dadurch zurück. »Holden, habt Ihr denn jemals von den
Ansichten solcher anarchistischer Koryphäen wie Proudhon
gelesen?«
Holden schnaufte. »Ich habe von den Aktionen eines Bakunin
gelesen; das hat mir schon gereicht.«
Traveller lachte, wobei sein Gesicht von den über ihm im
Navigationstisch integrierten elektrischen Lampen angestrahlt wurde.
»Wenn Ihr einmal über Eure Nasenspitze hinausgeblickt
hättet, Sir, wüßtet Ihr nämlich, daß Euer
Anarchist durchaus ein positives Menschenbild aufweist. Die
Würde des freien Menschen…«
»Quatsch«, kommentierte Holden barsch.
Traveller wandte sich mir zu. »Ned, der Anarchist ist eben
kein Anhänger von Gesetzlosigkeit oder verbrecherischem
Verhalten. Vielmehr vertritt er die Ansicht, daß die Menschen
fähig seien, in Harmonie miteinander zu leben, ohne
irgendwelchen Einschränkungen durch Gesetze unterworfen zu sein!
– daß alle Menschen im Grunde anständig seien und
nicht mehr darauf erpicht, sich gegenseitig umzubringen, als zum
Beispiel der Durchschnittsengländer danach trachtet, seine Frau,
sein Kind und seinen Hund zu töten. Und in ihrem Naturzustand
haben die Menschen als Anarchisten in Eden gelebt, frei von Gesetzen
und Zwängen!«
Holden murmelte etwas von Blasphemie, aber ich dachte über
diese erstaunlichen Paradigmen nach. »Aber wie sollten wir uns
ohne Gesetze gesellschaftlich organisieren? Wie sollten wir unsere
großen Industriekonzerne führen? Wie würden wir die
gesellschaftliche Arbeitsteilung vornehmen? Würde denn der Arme
nicht dem Reichen sein Schloß neiden und ohne die Abschreckung
durch das Gesetz sofort dort einbrechen und das Inventar
fortschleppen?«
»Aller Wahrscheinlichkeit nach würden solche Differenzen
gar nicht erst entstehen«, sagte Traveller, »und wenn das
doch der Fall wäre, würden sie auf zivilisierte Art
beigelegt werden. Jeder Mensch würde seinen Platz kennen und ihn
ohne Kommentar oder Beschwerde zum Wohle der Gesamtheit
ausfüllen.«
»Ein frommer Wunsch«, meinte der jetzt bereits rot
angelaufene Holden bissig; und ich sah mich nun doch veranlaßt,
ihm beizupflichten.
»Und«, fuhr ich fort, »wenn wir früher in
einem natürlichen Zustand der Gesetzlosigkeit gelebt hatten, wie
Tiere…«
»Nicht wie Tiere, Ned«, korrigierte Traveller mich.
»Als freie Menschen.«
»Aber wenn dem wirklich so war, warum haben wir dann heute
Gesetze?«
Traveller lächelte, und das Licht der alten Mondmeere wurde
von seiner Platinnase reflektiert. »Vielleicht solltet Ihr
Philosoph werden, Ned. Das sind nämlich genau die Fragen, mit
denen sich aufrechte Männer schon seit vielen Jahren befassen.
Wir haben Gesetze, weil es gewisse Individuen gibt – dazu
möchte ich alle Politiker und Fürsten zählen –,
die Gesetze benötigen, um ihre Mitmenschen zu unterdrücken
und ihre eigenen selbstsüchtigen Ziele zu verfolgen.«
Ich ließ diese bemerkenswerten Ausführungen auf mich
wirken. Das England, das ich kannte, war ein rationales, christliches
Land, eine Gesellschaft, die nach industriellen Prinzipien
organisiert und von ihrer Stärke und Legitimität
überzeugt war – eine Überzeugung, die überwiegend
durch die Industrien genährt wurde, zu deren Aufbau Travellers
Anti-Eis-Erfindungen so signifikant beigetragen hatten.
Doch hier war ein Mann im Herzen all dieser technischen
Errungenschaften, der mit den Ideen eines russischen Idealisten
sympathisierte! Ich fragte mich, übrigens nicht zum ersten Mal,
ob es vielleicht die Intensität der Erfahrungen – auf der
Krim und anderswo – gewesen war, die Traveller zu solchen
Ansichten hatte gelangen lassen. Und ich fragte mich, wie solche
Erlebnisse wohl die Gesinnung eines Menschen wie George Holden
verändert hätten…
Mittlerweile hatte Holden dichter zu uns aufgeschlossen. Sein Zorn
spiegelte sich in seinem knallroten runden Gesicht
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