Anti Freud - die Psychoanalyse wird entzaubert
Kunstwerk schaffen wollte, kümmerte er sich nicht um Wahrheit, Gesundheit, Genauigkeit oder Heilung. Er baute sein riesiges, imposantes, majestätisches, beeindruckendes Wolkenkuckucksheim und machte sich keine Sorgen darum, dass es nur aus Papier bestand und genauso wahr oder falsch war wie ein Roman oder eine Oper.
In Studien über Hysterie gestand Freud: »[E]s berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren [ sic ].« (Bd. I, S. 227) So viel Genialität ist doch verblüffend! Fallgeschichten, die wie Novellen erzählt sind – Freud genoss es sichtlich, sich im Bereich der Literatur wiederzufinden und nicht auf dem ernsten Terrain der Wissenschaft. Wider Willen gab Freud damit zu, dass er nie auf den Medizin-, sondern stets nur auf den Literaturnobelpreis hatte hoffen können.
Um sich nach den täglichen Sitzungen zu entspannen, las Freud regelmäßig Kriminalromane. Und tatsächlich ähneln seine großen Fälle (Dora, Hans, der Wolfsmann oder der Rattenmann) diesem psychologisch ambitionierten Genre, in dem die Protagonisten ein Rätsel lösen müssen. Ödipus war wachsam … Die Leiche war im Schrank, und nun galt es, den Schuldigen zu finden. Anders gesagt, der Kommissar stößt auf Indizien (die Symptome) und muss nun den Schuldigen fassen, er muss eine Fellatio am Vater, Geschlechtsverkehr mit der Mutter oder der Eltern untereinander nachweisen.
Freuds Fallgeschichten lesen sich deshalb wie kleine Romane, weil es kleine Romane sind; genauer gesagt: Novellen. Wie die Historiker schon seit fünfzig Jahren zeigen, sammelte Freud Materialien aus verschiedenen klinischen Fällen und ließ sie in ein und derselben Figur zusammenfließen, aus der er einen Protagonisten oder Charakter im La Bruyèreschen Sinne formte. Dora
ist die Hysterikerin, Hans der Phobiker, Schreber der Paranoide, der Wolfsmann der Neurotiker. Jeder steht für ein Porträt in der Galerie psychopathologischer Prototypen. Freud schuf eine fiktionale Nosologie, mit der die Disziplin begründet und ihre theoretische und praktische Wirksamkeit nachgewiesen werden sollte.
Wie ein italienischer Renaissancemaler, der verschiedene Zeiten und Welten in ein und demselben Bild versammelte und zu einem Ganzen zusammenfügte, veränderte auch Freud die zeitliche Reihenfolge bei seinen Untersuchungen, um seinen Thesen mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, die ja stets mit den eigenen Obsessionen in Zusammenhang standen. So tauchte das, was sich historisch betrachtet zuvor ereignet hatte und deshalb eine Ursache hätte sein müssen, erst danach in der Erzählung auf und wurde auf diese Weise zur Wirkung. Auch hier bediente sich Freud der magischen Kausalität, was natürlich der Erzählung zugute kam, aber dem wissenschaftlichen Vorgehen diametral entgegengesetzt war, welches er doch stets beanspruchte (obwohl er sich zugleich freute, dessen Regeln zu brechen)! Die literarische Wahrheit speiste sich gerade aus dieser Zerstörung der historischen Wahrheit und dem unbestreitbaren Erzähltalent des Psychoanalytikers.
Und doch war Freuds Material historisch, es ging um echte Menschen, authentisches Leid und schwere Krankheiten. Unter dem Deckmantel des Respekts gegenüber dem Patienten gab Freud seinen Fällen falsche Namen – doch vielleicht wollte er damit auch verhindern, dass die Patienten sich zu ihren Fallgeschichten äußerten und Widersprüche darin aufdeckten. Oder er wollte mit den fiktionalen Protagonisten Figuren schaffen, die sich zur Gründung, Legitimation und Fortschreibung der Psychoanalyse eigneten. Was die zwangsweise für diese Aufgabe rekrutierten Patienten darüber dachten, war ihm einerlei.
Die verletzten Seelen, aus denen kanonische Figuren der Psychoanalyse wurden, fühlten sich instrumentalisiert, denn hinter jedem angeblich erfolgreich behandelten Fall stand eine Lüge.
Freud hatte diese Patienten nicht erfolgreich behandelt, besser gesagt: Er hatte seine fiktiven Charaktere auf dem Papier geheilt, aber nicht die Menschen hinter dem Pseudonym.
Freud hatte Anna O. geheilt, nicht aber Bertha Pappenheim; Dora, aber nicht Ida Bauer, den Kleinen Hans, aber nicht Herbert Graf, den Rattenmann, aber nicht Ernst Lanzer, den Wolfsmann, aber nicht Sergej Pankejeff – er heilte nur auf dem Papier, wenn er still am Schreibtisch saß; er heilte für die Biographen, die in Wahrheit Hagiographen
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