Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
schlimmstenfalls um eine Verzögerung von wenigen Minuten handeln, verhundertfachte sich; Minuten wurden zu Stunden. Die Verantwortlichen in der Stadtverwaltung von New York City hatten eben einfach keine Ahnung von Nichtlinearitäten.
Das ist das zentrale Problem von Komplexität: Derartige Irrtümer verschlimmern und multiplizieren sich, sie schwellen an, und alles, was sie bewirken, geht in eine Richtung – nämlich in die falsche.
Mehr ist anders
Eine weitere Möglichkeit, Konvexitätseffekte zu verstehen: Man denke an den Vorgang der Skalierung. Wenn man den Grad, in dem etwas etwas anderem ausgesetzt ist, verdoppelt, wird dann auch der dadurch verursachte Schaden mehr als doppelt so groß? Ist das der Fall, dann handelt es sich um eine fragile Situation. Andernfalls ist die Situation robust.
Dieser Punkt wurde von P. W. Anderson im Titel seines Aufsatzes treffend formuliert: »Mehr ist anders«. Und das, was Komplexitätsspezialisten als »emergente Eigenschaften« bezeichnen, ist das nichtlineare Resultat der Hinzufügung von Einheiten, insofern, als die Summe sich immer stärker von den Teilen unterscheidet. Man denke nur an den Unterschied zwischen dem großen Felsbrocken und den Kieselsteinchen: Letztere haben dasselbe Gewicht und im Prinzip dieselbe Form, aber das ist auch schon alles. Und im fünften Kapitel haben wir gesehen, dass eine Stadt kein großes Dorf ist, so wenig wie ein Großunternehmen ein größerer Kleinbetrieb ist. Wir haben auch gesehen, wie sich der Charakter von Zufälligkeit verändert, wenn sich das Feld von Mediokristan nach Extremistan verschiebt – ein Staat ist kein großes Dorf, und es gibt noch viele andere grundlegende Unterschiede, die auf Veränderungen der Größe sowie der Geschwindigkeit zurückgehen. In all diesen Fällen ist Nichtlinearität am Werk.
Eine »ausgewogene Mahlzeit«
Noch ein Beispiel für die verborgene Dimension der Variabilität: Uns wird gegenwärtig von der Sowjet-Harvard-Sparte der amerikanischen Gesundheitsautoritäten empfohlen, wir sollten täglich eine bestimmte Menge an Nährstoffen zu uns nehmen (soundso viele Kalorien insgesamt, soundso viele Proteine, Vitamine und so weiter). Häufig finden sich auf Nahrungsmittelpackungen Angaben zum »Anteil der empfohlenen Tagesdosis«. Abgesehen davon, dass es keine empirischen Grundlagen für die Ableitung dieser empfohlenen Werte gibt (ich komme darauf in den Abschnitten über das Gesundheitswesen noch zu sprechen), krankt die Empfehlung noch an einer weiteren Nachlässigkeit: dem Nachdruck, der auf die Regelmäßigkeit gelegt wird. Diejenigen, die uns solche Ernährungsstrategien empfehlen, verstehen nicht, dass es etwas ganz anderes ist, seine Kalorien und Nährstoffe »gleichmäßig verteilt« über den Tag zu sich zu nehmen, in »ausgewogener« Zusammensetzung und mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms, oder beispielweise an einem Tag sehr viel Eiweiß aufzunehmen, an einem anderen Tag zu fasten und am dritten Tag richtig zu schlemmen.
Damit verkennt man völlig die Wirkung von Hormesis, dem geringfügigen Stressor, der sich aufgrund von episodischer Entbehrung einstellt. Lange Zeit war niemand daran interessiert, sich zu überlegen, ob eine Verteilungsvariabilität – also ein Effekt zweiter Ordnung – eine ähnlich große Rolle spielen könnte wie die langfristig stabile Zusammensetzung. Mittlerweile werden erste Forschungen auf diesem Gebiet unternommen, allerdings geschieht das noch sehr schleppend. Man beginnt zu erkennen, dass die Auswirkung von Variabilität in der Zusammensetzung der Nahrungsquellen sowie die Nichtlinearität in der Reaktion des Körpers für biologische Systeme von zentraler Bedeutung sind. Dadurch, dass ich am Montag überhaupt kein Eiweiß zu mir nehme und den Ausfall am Mittwoch ausgleiche, wird offensichtlich eine andere – bessere – physiologische Reaktion angestoßen, möglicherweise weil der Mangel als Stressor gewisse Leitbahnen aktiviert, die die nachfolgende Aufnahme der Nährstoffe erleichtern (so oder ähnlich kann man sich das wohl vorstellen). Außerhalb von ein paar wenigen aktuellen (nicht aufeinander bezogenen) empirischen Studien wurde dieser Konvexitätseffekt bis heute von der Wissenschaft völlig übersehen – ganz im Gegensatz zu Religionen, überkommenen Heuristiken und Traditionen. Und wenn Wissenschaftler auch manchmal ansatzweise einen Aspekt von Konvexitätseffekten erfassen (wie wir im Zusammenhang mit der Kontextabhängigkeit
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