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Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)

Titel: Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nassim Nicholas Taleb
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machen, lassen uns den Untergrund spüren, auf dem wir uns bewegen. In ähnlicher Weise erlaubt uns die moderne Technik, einen Trend umzukehren, der Oswald Spengler zufolge die Zivilisation von Pflanzen zu Steinen, also vom Fraktalen zum Euklidischen verlaufen lässt. Gegenwärtig bewegen wir uns zurück vom Stein mit seiner glatten Oberfläche in den Bereich des üppig Fraktalen und Natürlichen. Benoît Mandelbrot schrieb mit Blick durch ein Fenster, von dem aus er Bäume sehen konnte: Er brauchte die fraktale Ästhetik so sehr, dass er sich gar nichts anderes vorstellen konnte. Die moderne Technik erlaubt es uns heute, mit der Natur zu verschmelzen, nicht mehr durch ein kleines Fenster abgetrennt zu sein, sondern durch eine gläserne Wand hindurch auf üppige, dicht bewaldete Gebiete zu schauen.
    Maße und Gewichte
    Ein weiteres Beispiel für staatlich verordnete Neomanie: die Einführung des metrischen Systems, das aus Gründen der Effizienz »archaische« Messsysteme ersetzen soll – weil es angeblich »Sinn macht«. Vielleicht ist die Logik, die dem zugrunde liegt, ja tatsächlich unangreifbar (es sei denn, man ersetzt sie – was ich im Folgenden versuchen möchte – durch eine bessere, weniger naive Logik). Schauen wir uns die Kluft an, welche sich zwischen Rationalismus und Empirismus bei diesem Versuch auftut.
    Warwick Cairns, ein Charakter vom Kaliber einer Jane Jacobs, hat bereits mehrere Prozesse angestrengt, um Bauern in England ihr Recht zu erhalten, Bananen und andere Lebensmittel pfundweise zu verkaufen; die Bauern hatten sich geweigert, mit dem »rationelleren« Kilogramm zu arbeiten. Die Metrifizierungsidee stammt aus den Jahrzehnten der Französischen Revolution, sie gehörte zu der von utopischem Geist getragenen Zeitströmung, die unter anderem auch die Namen der Wintermonate in – entsprechend den jeweiligen Wetterverhältnissen – Nivôse, Pluviôse und Ventôse verändern und generell ein dezimales Zeitsystem einführen wollte, mit einer Zehntagewoche und noch weiteren, ähnlich naiv rationalen Vorhaben. Glücklicherweise war dem Zeitveränderungsprojekt kein Erfolg beschieden. Das metrische System jedoch wurde nach mehreren gescheiterten Anläufen durchgesetzt; allerdings hat sich das alte System in den USA und in England hartnäckig gehalten. Der französische Schriftsteller Edmond About, der im Jahr 1832 Griechenland besuchte, ein Dutzend Jahre nachdem das Land unabhängig geworden war, berichtet, wie sehr die Bauern mit dem für sie vollkommen unnatürlichen metrischen System zu kämpfen hatten, und dass sie trotz allem weiterhin ihre osmanischen Maße benutzten. (Einer ähnlichen »Modernisierung« wurde das arabische Alphabet unterzogen: Die Ablösung der leicht zu merkenden alten semitischen Abfolge, in der Wörter erkennbar waren – ABJAD , HAWWAZ –, durch die logische Abfolge A-B-T- TH hat dazu geführt, dass eine ganze Generation arabischsprechender Menschen ihr Alphabet nicht mehr aufsagen kann.)
    Nur wenige scheinen bemerkt zu haben, dass auf natürliche Ursprünge zurückgehende Gewichte ihre eigene Logik haben: Wir benutzen Fuß, Meile, Pfund, Inch, Furlong (Furchenlänge), Stein (in England), weil es leicht nachvollziehbare Maße sind, die wir mit einem Minimum an kognitiver Anstrengung anwenden können – und offenbar haben sämtliche Kulturen ähnliche Maße mit direktem Bezug zum Alltagsleben. Ein Meter passt zu gar nichts; ein Fuß hingegen durchaus. Ich kann mir ohne Weiteres vorstellen, wie groß ein Abstand von »30 Fuß« ist. Eine Meile, abgeleitet vom lateinischen milia passuum , ist so viel wie eintausend Schritte. Und ein Stein (14 Pfund) ist so schwer wie … nun ja, eben ein Stein. Ein Inch (französisch pouce ) entspricht der Breite eines Daumens. Ein Furlong ist der Abstand, den man sprinten kann, bevor einem die Luft ausgeht. Ein Pfund, abgeleitet von libra , ist so viel, wie man mit beiden Händen fassen kann. Aus der Geschichte von Thales im zwölften Kapitel erinnern Sie sich an den Gebrauch von thekel oder shekel : Die Wörter bedeuten in den kanaanitisch-semitischen Sprachen »Gewicht«, sie evozieren Materialität, ebenso wie das Pfund. Diese Einheiten sind in der Welt unserer Ahnen nicht zufällig entstanden – schließlich entspringt ja auch das digitale System der Verwandtschaft mit unseren zehn Fingern.
    Während ich diese Zeilen schreibe, sitzt sehr wahrscheinlich schon ein Beamter der Europäischen Union, einer von den Typen, die täglich

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