Antonio im Wunderland
gewe-
sen, außer mir hätte niemand gefragt, da habe er ja so-
zusagen doppelt Glück gehabt. Jetzt hat er den Bogen
überspannt. Selbst Egidio, der sonst für raue Späße zu-
ständig ist, schaut zu mir herüber, als wolle er sagen:
«Junge, jetzt musst du ihm die Salami über die Rübe
ziehen.» Aber erstens geht das nicht, weil ich die Sala-
mi bis auf einen kleinen, zum Schlagen ungeeigneten
Stumpen aufessen musste, und zweitens kommt mir
Sara zuvor, indem sie ihrem Vater eine zerknüllte Pa-
pierserviette ins Gesicht wirft, ihren Stuhl umschmeißt
und türenschlagend in unser Gästezimmer läuft.
Was tun? Sofort abreisen? Mich mit meinem Schwie-
gervater prügeln? Ich entscheide mich, einen Schluck
Rotwein zu trinken, und sage dann: «Das war ein guter
Plan, Antonio, aber nicht so gut wie meiner. Ich habe
sie nämlich nur geheiratet, um an deine Millionen zu
kommen.»
Stille. Jetzt habe ich ihn bloßgestellt, denn natürlich
wissen alle, die hier sitzen, dass Antonio nicht reich,
nicht einmal vermögend ist. Die Crux ist bloß, dass
man niemals die Fassade einreißt, die einer mühsam
aufgebaut hat. Könnte sein, dass ich jetzt enterbt und
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gepfählt werde. Antonio glotzt mich an, auch er ist in
einer schwierigen Lage. Er hat es übertrieben, sei es aus
Übermut oder aus Rache an seiner Tochter, die ihn
schon lange durchschaut hat und damit nicht hinterm
Berg hält. Egidio, Raffaele, die Frauen, die Nonna, alle
sind gespannt darauf, wie er nun reagiert.
Antonio hebt langsam sein Glas und holt wie in Zeit-
lupe aus, um mir, denke ich, seinen Wein ins Gesicht
zu schütten, aber in letzter Sekunde bremst er und ruft:
«Auf meinen klugen Schwiegersohn!» Ich bin gerettet,
weil er seine Maske nicht fallen lassen will. Er will sich sein Spielchen, sein Späßchen, sein Steckenpferdchen
nicht selbst verderben und prostet mir zu. Was bleibt
mir anderes übrig, als mit ihm anzustoßen? Ich erhebe
also mein Glas, und die Unterhaltung am Tisch zieht
weiter wie eine Karawane. Bald ist der Zwischenfall ver-
gessen. Ursula verschwindet wenig später. Ich höre,
wie sie ins Gästezimmer geht und die Tür schließt.
Obwohl der Abend fürs Erste gerettet ist, liegt nun
ein Schatten über dem Urlaub. Bevor meine Schwieger-
eltern mit Tante Maria und Onkel Egidio die Wohnung
verlassen, nehme ich Antonio beiseite und sage leise:
«Du solltest dich bei Sara entschuldigen. Das ging vor-
hin zu weit.»
«Meinste du. Iste erwachsene, sie kann auch mal ei-
ner Spaß verstehen.»
«Das war zu viel Spaß.»
Da nickt er und zieht den Reißverschluss seiner Ja-
cke zu. Ich hoffe, dass er sich etwas einfallen lässt,
denn sonst sehe ich schwarz für unsere Ferien.
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Als wir ins Bett gehen, weint Sara immer noch vor
Wut.
«Er geht mir auf den Geist», zischt sie leise.
«Ich weiß, aber du nimmst das auch alles ziemlich
ernst», sage ich. Sie ist mir böse, weil ich Partei für ihn ergreife, es gefällt ihr nicht, dass ich mit ihm lachen
kann.
«Immer dieses Getue, wenn er hier ist. Und zu Hause
mimt er bei jeder Politesse den doofen Gastarbeiter.»
Sara will kein Gastarbeiterkind mehr sein. Sie hat
beide Staatsangehörigkeiten, und manchmal wünschte
sie, es wäre nur eine. Überall muss sie ihren Namen
buchstabieren. Ständig muss sie zu Hause ihren Vater
in Schutz nehmen. Das Leben der Gastarbeiterkinder
besteht zu einem großen Teil darin, die Biographie der
Eltern hinter sich zu lassen. Diese Hypothek gibt es
zwar nicht nur bei ausländischen Familien, die gibt es
überall. Aber das ist Sara egal. Je älter sie wird, desto
weiter entfernt sie sich von ihrem Vater. Wie ein trei-
bendes Boot.
«Hättest du was dagegen, wenn ich deinen Namen
annehme?», fragt sie mich leise. Damals, bei unserer
Hochzeit, wollte sie ihn noch behalten, weil er so
schön ist.
«Nein, natürlich nicht», flüstere ich und küsse sie.
Wir lieben uns ganz leise, damit die Oma nebenan
nicht aufwacht. Hinterher stelle ich fest, dass sie im
Laufe des Abends im Zimmer gewesen sein muss. Sie
hat das Bild mit dem weinenden Milchbubi wieder um-
gedreht. Er hat uns die ganze Zeit zugesehen.
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QUATTRO
Sara bleibt gereizt. Ihr Vater macht sie irre. Am Morgen
beim Frühstück hat Antonio allen Anwesenden lang
und breit und zum vierhundertsten Mal erklärt, warum
er nicht Parteivorsitzender der sozialistischen Partei Italiens geworden ist, nämlich weil vermeintliche Freunde
ihn
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