Antonio im Wunderland
mit einer Intrige ausbooteten. Das könne er ihnen
nie verzeihen, und daher habe er mit allen gebrochen
und sei nach Deutschland gezogen, wo die Gewerk-
schaften noch Ehre im Leib hätten und keine Verbre-
cher seien wie hier. Man hat ihm aufmerksam zuge-
hört, und niemand widersprach ihm, auch nicht Sara,
die wie jeder andere im Raum genau weiß, warum An-
tonio nach Deutschland kam.
In Wahrheit nämlich drückte er sich schlicht und
einfach vor dem Militärdienst und den fehlenden Per-
spektiven in seiner Heimat, wo niemand auf ihn warte-
te und niemand irgendwelche Hoffnungen an ihn
knüpfte, erst recht nicht in der sozialistischen Partei. In Deutschland hingegen wurden Anfang der sechziger
Jahre junge und gut ausgebildete Arbeiter wie er drin-
gend gebraucht. Antonio plante, in diesem Deutsch-
land genügend Geld zu sparen, um schließlich nach
Amerika auszuwandern, wo jedermann reich und sorg-
los leben konnte. So hatte er es jedenfalls im Kino ge-
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sehen. Er machte sich bei Nacht und Nebel aus dem
Staub und besuchte seine Familie erst wieder, als er si-
cher sein konnte, nicht mehr zum Militär eingezogen
zu werden.
Die Bewunderung für den mutigen Zweitältesten
Sohn vermischte sich damals bei den Marcipanes mit
einer Wut darüber, von ihm im Stich gelassen worden
zu sein. Letzteres hat sich über die letzten dreißig Jahre aber längst gegeben.
Inzwischen schätzt man Antonio als spendablen On-
kel, und seine stille Frau – die Deutsche, wie sie jahre-
lang nur genannt wurde – wird gemocht, weil sie immer
freundlich ist und sich am Famillienklatsch nur als
aufmerksame Zuhörerin beteiligt. Es ist nicht zu erwar-
ten, dass sie Geheimnisse ausplaudert, schon weil ihr
das nötige Vokabular im regionalen Slang dafür fehlt.
Was seine Parteizugehörigkeit anging, so war Anto-
nios Karriereleiter übrigens in Wahrheit von beeindru-
ckender Kürze und zählte genau zwei Sprossen: einfa-
ches Mitglied und Versammlungsleiter bei einer Spre-
cherwahl. Dennoch verklärt er seine Parteitätigkeit zu
einer glanzvollen Karriere, in welcher er es bis zum
Parteisekretär gebracht habe.
Aber was soll’s, vergeben ist das und vergessen,
schließlich müssten die bösen Menschen zur Strafe
immer noch in Italien hausen, während er in seiner Vil-
la in Deutschland sitzt und zum Frühstück Zungen-
wurst bekommt. So, da habt ihr’s.
Es sind diese Auftritte und Ansprachen, die Sara den
letzten Nerv rauben. Diese geballte Ladung Frohsinn
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und Anmaßung hat sie über dreißig Jahre ausgehalten,
jetzt hat sie dazu keine Lust mehr. Irgendwann musste
es einfach so kommen, und nun ist es halt so weit. Ich
kann Sara schlecht bitten, sich zusammenzureißen,
schließlich hat sie auch Tochterrechte. Mir scheint al-
lerdings, dass Antonio es ihr kaum recht machen kann.
Er bemüht sich sichtlich, bringt ihr Kaffee, dekoriert ih-
ren Platz mit ein paar Blümchen, flötet Komplimente. Er
hat ein schlechtes Gewissen. Aber es hilft nichts. Sara
kann stur sein wie ein sardischer Esel. Nichts zu ma-
chen, sie lässt ihn auflaufen, auch als er ihr wichtige
Tipps fürs Lottospielen gibt. Sie spiele kein Lotto, knurrt sie und geht mit ihrem Kaffee in Nonna Annas Küche.
Antonio setzt sich an den Esstisch und seufzt. So leicht
kommt er nicht aus der Nummer heraus. Und das ist für
ihn schon eine große Belastung, denn er begibt sich
nicht häufig in Krisensituationen. Meistens lebt er ein-
fach glücklich in seiner eigenen Welt, in der Antonio-
Welt. Die Probleme draußen bei den anderen berühren
ihn nur kurz und auch nur sanft, wenn zum Beispiel das
Essen versalzen ist oder der Wind ihm den Hut vom Kopf
weht. Ansonsten nimmt er die Fährnisse des Lebens nur
sehr eingeschränkt oder gar nicht zur Kenntnis.
Wenn er zum Beispiel in Deutschland ist und der Bus
zu spät kommt, ärgert er sich nicht, niemals. Das ist nicht sein Problem, denn seiner Logik zufolge fährt der
Bus ja nicht seinetwegen. Er ist bloß Gast in diesem
Land, und Zeitverzögerungen im öffentlichen Perso-
nennahverkehr (ein Wort, das er bis heute nicht be-
nutzt, er sagt stattdessen: öffentlicher Verkehr) betref-
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fen eigentlich die Deutschen und nicht ihn. Und wenn
er in einem Restaurant sitzt und nichts findet, worauf
er Lust hat, empfindet er Mitleid mit den armen Men-
schen, die so ein schreckliches Essen runterwürgen
müssen. Seine Sicht der Dinge hat Vorteile: Ihm geht es
eigentlich
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