Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Antonio im Wunderland

Antonio im Wunderland

Titel: Antonio im Wunderland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Weiler
Vom Netzwerk:
immer gut, denn er hat alles, was er braucht,
    und wenn er mal etwas nicht hat, erklärt er dies zu sei-
    nem Lebensprinzip.
    Sara ist anders als ihr Vater. Sie findet ihn ignorant
    und steht nun schon nach kaum zwei Tagen mit ihm in
    Campobasso geduldsmäßig vor der Kernschmelze. Nach
    dem Frühstück will sie raus, spazieren gehen, auf jeden
    Fall nicht in seiner Nähe sein. Es ist warm draußen,
    schon am Vormittag über dreißig Grad. Sommerhitze
    mit Wind, wie es hier üblich ist. Man könnte Drachen
    steigen lassen, wenn das nicht zu anstrengend wäre.
    «Er hört nie zu», sagt sie, kaum dass wir das Haus, in
    dem Nonna Anna wohnt, verlassen haben und auf die
    Straße treten. «Hat er eigentlich nie getan.» Wir laufen
    die Via Tiberio entlang, und plötzlich bricht alles aus
    ihr heraus, sie lässt wirklich kein gutes Haar an ihrem
    Vater. Bisher war sie immer loyal, ihre Familie war eine
    Art Geheimloge, und Antonio so etwas wie ein Zaube-
    rer. Jetzt entpuppt er sich aber als Illusionist, und das
    ist eben nicht dasselbe.
    Es stimmt schon: Antonio übertreibt, er schmückt
    aus, er fabuliert. Und alle, die es besser wissen, schüt-
    teln den Kopf oder lachen über ihn. Er denkt dann, sie
    lachen mit ihm und bringt seine Töchter damit noch
    mehr auf die Palme. Er ist seinen beiden Mädchen pein-
    76
    lich, er lacht bei Filmen an den falschen Stellen, er ist so offensichtlich voller Unzulänglichkeiten, dass ihn jeder
    mag. Aber Sara hätte gerne einmal, nur ein einziges
    Mal, einen perfekten Vater.
    «So was gibt es nicht», sage ich und denke an meine
    Eltern. Ich habe mir zu Hause immer etwas mehr Toni-
    Spirit gewünscht.
    Wir kaufen Pfirsiche – hier gibt es noch welche, sie
    sind noch nicht wie bei uns flächendeckend von der
    Nektarine verdrängt worden. Große, pelzige, wunder-
    bare Pfirsiche. Habe ich lange nicht gegessen. Wir set-
    zen uns auf einen kleinen Brunnen unter einer Platane
    und sehen zu, wie winzige Campobasso’sche Omis mit
    Kopftüchern über die Straße flitzen. Die gehen jeden
    Tag einkaufen, um unter Leute zu kommen.
    Sara grüßt jemanden, wechselt ein paar Worte. Dann
    leckt sie sich die Finger ab. Sie meckert über Antonios
    fatale Neigung, sich vor Fremden so furchtbar aufzu-
    spielen. Und dann ist da noch ein anderes Problem,
    und das gibt es nicht nur in Gastarbeiterfamilien.
    Es ist nämlich nicht nur angenehm zu erkennen,
    dass man erwachsen ist, denn dazu gehört auch die
    Entdeckung: Meine Eltern werden alt. Sie hören einem
    länger zu als man ihnen. Sie schrumpfen. Sie haben
    Gewohnheiten, die man alt findet, ihre Einrichtung
    kommt einem trenkeresk 1 vor. Wenn man erwachsen 1 Eigenschaftswort, leitet sich von «Luis Trenker» (eigentlich Alois Franz Trenker, geboren am 4. Oktober 1892 in St. Ulrich, Südtirol; gestorben am 12. April 1990 in Bozen, Südtirol) ab und spielt 77
    ist, tauscht man mit seinen Eltern so ganz allmählich
    die Rollen. Plötzlich beginnen die Kinder, mit den El-
    tern ungeduldig zu werden. Der elterliche Lifestyle ge-
    rät in fundamentale Kritik: Wie rennst du denn rum,
    ihr steht aber ganz schön spät auf, geh doch mal ein
    bisschen an die Luft, Papa. Die Kinder mäkeln, sie wei-
    sen zurecht, sie bemerken die Altersflecken auf den
    Händen ihrer Mütter, sie wissen alles besser, sie waren
    schon in Patagonien. Und die Eltern? Werden unsi-
    cher, blicken nicht mehr überall durch, wollen auch
    gar nicht mehr alles Neue lernen. Gemeinsam nähern
    sich Eltern und Kinder dem Tag, an dem der Vater
    nicht mal mehr einen Löffel richtig halten kann und
    gefüttert werden muss. Der Weg dahin ist nicht ganz
    einfach.

    Sara und Antonio befinden sich im Übergang, so wie
    wir uns alle irgendwann im Übergang befinden. Ken-
    nen wir das? Ja, das kennen wir. Die Schwierigkeit ist
    bloß: Während es anderswo zu großen letzten Gefech-
    ten am Esstisch und zu weinenden Müttern und verletz-
    ten Vätern und schließlich zu Versöhnungen bei Wein
    und Schnaps kommt, verhallen im Hause Marcipane
    alle Versuche, den Eltern heimzuleuchten. Sara
    wünscht sich, mit Antonio einmal so ein Gespräch zu
    führen, wie es ihre Freundinnen mit ihren Eltern füh-
    ren, aber Antonio interessiert sich nicht für Reformen

    auf das hohe Alter von Gegenständen oder Personen an. Ist meistens nicht böse gemeint.
    78
    oder Renten oder Geldanlagen. Er will mit ihr nicht über
    ihren Beruf sprechen und schon gar nicht über Politik.
    Und Ursula? Steht in der Küche und

Weitere Kostenlose Bücher