Antonio im Wunderland
immer gut, denn er hat alles, was er braucht,
und wenn er mal etwas nicht hat, erklärt er dies zu sei-
nem Lebensprinzip.
Sara ist anders als ihr Vater. Sie findet ihn ignorant
und steht nun schon nach kaum zwei Tagen mit ihm in
Campobasso geduldsmäßig vor der Kernschmelze. Nach
dem Frühstück will sie raus, spazieren gehen, auf jeden
Fall nicht in seiner Nähe sein. Es ist warm draußen,
schon am Vormittag über dreißig Grad. Sommerhitze
mit Wind, wie es hier üblich ist. Man könnte Drachen
steigen lassen, wenn das nicht zu anstrengend wäre.
«Er hört nie zu», sagt sie, kaum dass wir das Haus, in
dem Nonna Anna wohnt, verlassen haben und auf die
Straße treten. «Hat er eigentlich nie getan.» Wir laufen
die Via Tiberio entlang, und plötzlich bricht alles aus
ihr heraus, sie lässt wirklich kein gutes Haar an ihrem
Vater. Bisher war sie immer loyal, ihre Familie war eine
Art Geheimloge, und Antonio so etwas wie ein Zaube-
rer. Jetzt entpuppt er sich aber als Illusionist, und das
ist eben nicht dasselbe.
Es stimmt schon: Antonio übertreibt, er schmückt
aus, er fabuliert. Und alle, die es besser wissen, schüt-
teln den Kopf oder lachen über ihn. Er denkt dann, sie
lachen mit ihm und bringt seine Töchter damit noch
mehr auf die Palme. Er ist seinen beiden Mädchen pein-
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lich, er lacht bei Filmen an den falschen Stellen, er ist so offensichtlich voller Unzulänglichkeiten, dass ihn jeder
mag. Aber Sara hätte gerne einmal, nur ein einziges
Mal, einen perfekten Vater.
«So was gibt es nicht», sage ich und denke an meine
Eltern. Ich habe mir zu Hause immer etwas mehr Toni-
Spirit gewünscht.
Wir kaufen Pfirsiche – hier gibt es noch welche, sie
sind noch nicht wie bei uns flächendeckend von der
Nektarine verdrängt worden. Große, pelzige, wunder-
bare Pfirsiche. Habe ich lange nicht gegessen. Wir set-
zen uns auf einen kleinen Brunnen unter einer Platane
und sehen zu, wie winzige Campobasso’sche Omis mit
Kopftüchern über die Straße flitzen. Die gehen jeden
Tag einkaufen, um unter Leute zu kommen.
Sara grüßt jemanden, wechselt ein paar Worte. Dann
leckt sie sich die Finger ab. Sie meckert über Antonios
fatale Neigung, sich vor Fremden so furchtbar aufzu-
spielen. Und dann ist da noch ein anderes Problem,
und das gibt es nicht nur in Gastarbeiterfamilien.
Es ist nämlich nicht nur angenehm zu erkennen,
dass man erwachsen ist, denn dazu gehört auch die
Entdeckung: Meine Eltern werden alt. Sie hören einem
länger zu als man ihnen. Sie schrumpfen. Sie haben
Gewohnheiten, die man alt findet, ihre Einrichtung
kommt einem trenkeresk 1 vor. Wenn man erwachsen 1 Eigenschaftswort, leitet sich von «Luis Trenker» (eigentlich Alois Franz Trenker, geboren am 4. Oktober 1892 in St. Ulrich, Südtirol; gestorben am 12. April 1990 in Bozen, Südtirol) ab und spielt 77
ist, tauscht man mit seinen Eltern so ganz allmählich
die Rollen. Plötzlich beginnen die Kinder, mit den El-
tern ungeduldig zu werden. Der elterliche Lifestyle ge-
rät in fundamentale Kritik: Wie rennst du denn rum,
ihr steht aber ganz schön spät auf, geh doch mal ein
bisschen an die Luft, Papa. Die Kinder mäkeln, sie wei-
sen zurecht, sie bemerken die Altersflecken auf den
Händen ihrer Mütter, sie wissen alles besser, sie waren
schon in Patagonien. Und die Eltern? Werden unsi-
cher, blicken nicht mehr überall durch, wollen auch
gar nicht mehr alles Neue lernen. Gemeinsam nähern
sich Eltern und Kinder dem Tag, an dem der Vater
nicht mal mehr einen Löffel richtig halten kann und
gefüttert werden muss. Der Weg dahin ist nicht ganz
einfach.
Sara und Antonio befinden sich im Übergang, so wie
wir uns alle irgendwann im Übergang befinden. Ken-
nen wir das? Ja, das kennen wir. Die Schwierigkeit ist
bloß: Während es anderswo zu großen letzten Gefech-
ten am Esstisch und zu weinenden Müttern und verletz-
ten Vätern und schließlich zu Versöhnungen bei Wein
und Schnaps kommt, verhallen im Hause Marcipane
alle Versuche, den Eltern heimzuleuchten. Sara
wünscht sich, mit Antonio einmal so ein Gespräch zu
führen, wie es ihre Freundinnen mit ihren Eltern füh-
ren, aber Antonio interessiert sich nicht für Reformen
auf das hohe Alter von Gegenständen oder Personen an. Ist meistens nicht böse gemeint.
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oder Renten oder Geldanlagen. Er will mit ihr nicht über
ihren Beruf sprechen und schon gar nicht über Politik.
Und Ursula? Steht in der Küche und
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