Antonio im Wunderland
Antonio nicht in der Lage. Als er
einmal Hausarrest verordnete, hob er diesen nach einer
knappen halben Stunde wieder auf, weil ihm seine
Tochter so entsetzlich fehlte und er ihre Rache – «wen-
ni mi nickte mehr wehre, schiebste du meiner Rollstuhl
in eine See» – fürchtete.
Kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag, ein ge-
wisser Rolf war in ihr Leben getreten, indem er ihr auf
einem Schulfest eine Cola spendiert hatte, bat Sara ihre
Mutter, sie zu einem Frauenarzt zu begleiten. Sie
brauchte ein Rezept für die Pille und elterlichen Bei-
stand. Insgeheim wollte sie wohl auch, dass zumindest
ihre Mutter wusste, dass es, dass sie nun so weit war.
Ihren Vater hätte sie in dieser Sache niemals ins Ver-
trauen gezogen, das Risiko eines enormen Antonio-
Auftritts wäre viel zu groß gewesen.
Mutter und Tochter verabredeten daher nach einem
Blick auf Antonios Schichtplan einen Termin an einem
Dienstag um 14 Uhr. Antonio würde arbeiten und das
Wunder der Empfängnisverhütung von ihm ungeahnt
vonstatten gehen. An nämlichem Dienstag erkrankte
Antonio jedoch morgens an einer Scheibe Cervelat-
wurst und konnte nicht zur Arbeit gehen. Sara und
Ursula versuchten ihn zu überreden, aber Antonio wand
sich in Krämpfen und legte sich anschließend auf die
Couch, um Arbeitslosenfernsehen anzuschauen. Ursula
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wollte schon den Termin absagen, aber Sara war dage-
gen, denn ihre Beziehung zu Rolf hing an einem seide-
nen Faden und von der Einnahme der Pille ab.
Gegen Mittag ging es Antonio spürbar besser. Beim
Mittagessen dozierte er vom Wesen der Liebe und von
seinen wunderbaren Töchtern, ohne die er bloß Plank-
ton im Meer des Lebens sein würde. Oh, und wie arm
das Leben ohne Kinder sei. Gegen 13:30 Uhr beschloss
Antonio, ein kleines Nickerchen zu machen, welches er
um 13:34 Uhr beendete, als er gewahr wurde, dass sei-
ne Tochter und ihre Mutter sich im Flur anzogen, um
das Haus zu verlassen.
«Wo wollte ihr dennin?» fragte er Ursula.
«Was besorgen», antwortete sie betont gelangweilt.
«Unde was?»
«Dies und das», sagte Ursula, deren Versuche, ihren
Mann abzuschütteln, aussichtslos waren.
«Na, da kommi mit», rief Antonio fröhlich und zog
sich die Jacke an.
«Ich muss aber zum Arzt, Papa», sagte Sara, deren
Befürchtungen sich in roten Flecken an Hals und Wan-
gen äußerten.
«Biste du krank?»
«Nicht direkt krank. Ich muss halt zum Arzt.»
«Kein Problem. Begleiti dich und musste keine Sor-
gen machen, deine Papa iste da.»
«Ich mache mir keine Sorgen, Papa.»
«Aha. Und warum gehste dann zu ein Arzt? Hä?»
Der Einsicht folgend, dass sie ihn ohnehin nicht los-
werden konnten und es besser war, den Familienstreit
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nicht in einer Arztpraxis, sondern zu Hause auszutra-
gen, sagte Ursula die Wahrheit: «Antonio, sie braucht
die Pille.»
«Die Pille. Was fur ein Pille?»
«Na, die Pille halt. Du weißt doch sowieso schon
längst, dass wir heute zum Arzt wollen. Wahrschein-
lich hast du uns belauscht. Deswegen bist du nicht bei
der Arbeit und drückst dich hier seit heute Morgen
herum.»
Diese absolut richtige Unterstellung überhörte An-
tonio geflissentlich. Dafür fiel ihm seine Lebensmittel-
vergiftung wieder ein. Er beugte sich sterbenskrank
vornüber und stützte sich auf dem Treppengeländer ab.
So blickte er waidwund seiner Tochter in die Augen.
Unerträglich, wirklich. «Du willste keine Kinder?»
«Doch, Papa, aber noch nicht jetzt. Das ist noch viel
zu früh.»
«Sehr gut, findi auch, ist bisschen früh, in Ordnung.»
Pause, Nachdenken. «Aber warum dann der Pille?»
Sara sah ihre Mutter an, und die nahm den ganzen
Mut mütterlicher Komplizenschaft zusammen und sag-
te: «Damit unsere Tochter nicht jetzt schon schwanger
wird. Antonio. Sie ist eine junge Frau.»
«Heißte, sie machte eimelich mit einer der Junge
rum?»
«Ich mache gar nicht rum.»
«Du biste ein Kind!»
«Bin ich nicht.»
«Doch biste ein kleine Mädche.»
Antonio war wieder vollständig genesen und reckte
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sich zu seiner vollen Größe auf. Obwohl er nicht der
Meinung war, dass Frauen vor der Hochzeit über Babys
und deren Vermeidung nachdenken sollten – er selber
hatte für seine Person überhaupt nie darüber nachge-
dacht, aber er war ja auch keine Frau –, war ihm klar, dass seine Ansichten hier offenbar auf Widerstand
stießen. Und das nicht nur bei Sara. Seine eigene Frau
bedeutete ihm nun mit eindeutig zornigem Blick, in
dieser
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