Antonio im Wunderland
Freundschaften zu schließen.
Die Bemühungen des Mädchens endeten meist an
der Tür ihres Elternhauses. Sie durfte niemanden mit-
bringen, das wollte Antonio nicht. Seiner Logik zufolge
hatten es sich die anderen nicht verdient, sein Haus be-
treten zu dürfen. Wenn er schon kaum Einlass zu die-
ser Gesellschaft fand, dann hatte diese bei ihm eben
auch keinen Zutritt. Für Sara war dieses väterliche Edikt
eine einzige Katastrophe. Sie konnte niemandem ihr
Zimmer zeigen, mit niemandem zu Hause spielen, die
Zweifel der Nachbarskinder an der Normalität ihres El-
ternhauses nicht ausräumen. Sosehr sie auch bettelte,
bevor sie zehn Jahre alt war, hatte kein Fremder jemals
das marcipanesche Eigentum betreten.
An den Wochenenden ging es entweder zum Bahn-
1 Das ist ein krümeliges Sorbet, welches in Italien meistens in Farben angeboten wird, die man bei uns mit Plutonium assoziiert.
82
hof oder gemeinsam zur italienischen Gemeinde. Die
italienische Gemeinde war ein locker organisierter Ver-
ein, in dem die Gastarbeiter ihrem Heimweh frönten,
italienischen Kuchen aßen und sich über die Deut-
schen mokierten. Man half sich gegenseitig mit Behör-
denkram oder besorgte einander Jobs, in denen neben-
her etwas zu verdienen war. Jeder brachte seine Kinder
mit, und so spielten Sara und Lorella hauptsächlich mit
Leidensgefährten, die auch nur schlecht Anschluss
fanden, was sich natürlich verschlimmerte, indem sie
unter sich blieben.
In der italienischen Gemeinde wurden Geschäfte
gemacht, Möbel und Kleider getauscht und lange ges-
tenreiche Gespräche geführt. Die Frauen, zu denen Ur-
sula zwar nicht so richtig gehörte, die aber dennoch
sehr nett zu ihr waren, weil sie wussten, was Fremdsein
bedeutet, diese Frauen zeigten einander ihre neuen
Kleider und berichteten von den Benachteiligungen,
denen sie die Woche über ausgesetzt gewesen waren.
Seltsamerweise klagten sie zwar, lachten aber dabei.
Sie schienen sich nicht als Opfer einer ungerechten Ge-
sellschaft zu empfinden, sondern sogar in gewissem
Sinne als überlegen, sie fühlten sich eher unverstanden
als schlecht behandelt, und sie wussten, wie man sei-
nen Nutzen daraus zog.
Auf Ämtern hielten sie zum Beispiel den Betrieb un-
nötig und absichtlich auf, indem sie sich alles dreimal
erklären ließen. Beim Einkaufen prüften sie zwölf Äp-
fel und kauften drei. Und wenn ihre Kinder etwas an-
stellten, zuckten sie mit den Schultern und sagten auf
83
die Anklagen ihrer Nachbarn bloß: «Nix verstehen.»
Niemand konnte genau sagen, ob das die Wahrheit
war, aber eines stimmte ganz sicher: Die Situation in
dem fremden Land war viel einfacher, wenn man die
Gesellschaft, die einen nicht zu sich ins Warme bat,
seinerseits ausschloss. Die Italiener blieben am liebs-
ten unter sich – und Antonios Töchter mussten mit.
Als Sara 1975 in die Schule kam, hielt Antonio es für
angebracht, jeden Elternabend und jeden Elternsprech-
tag zu besuchen. Er verlangte eine saubere Schule, Ge-
sundheitszeugnisse der Lehrer und einen Unterricht, in
welchem gefälligst auch die römische und vor allem die
italienische Geschichte gelehrt werden sollte. Der Hin-
weis von Saras Lehrerin, dass auch die deutsche und
die germanische Geschichte nicht auf dem Lehrplan
der ersten Klasse standen, veranlasste ihn zu der Be-
merkung, dass dieser Verlust der kulturellen Identität
vielleicht der Grund dafür sei, dass es mit Deutschland
bergab ginge. Damit brachte er die ausnahmslos deut-
schen Eltern der Klasse gegen sich auf, und natürlich
landeten deren Ressentiments bei ihren Kindern, die
sie folgerichtig an Sara und Lorella ausließen.
Sie wurden innerhalb von wenigen Wochen aus der
Gemeinschaft ausgeschlossen, da half auch ihr schöns-
tes Lächeln nichts. Was sich zunächst nur in der Klasse
abspielte, griff bald auf die halbe Schule über, und
Schuld daran hatte wiederum Antonio, der nur das Bes-
te wollte, aber das Schlimmste tat, als er eines Tages
entschied, dass seine Töchter fürderhin gelbe Mützen
tragen sollten.
84
Er fand, dass sie damit auf dem Schulweg besser zu
sehen und damit sicherer waren. Kaum hatten sie den
Garagenhof überquert und waren außer Sichtweite,
stopften sie die Mützen, die von ihrer Mutter auf Geheiß
des Familienoberhauptes gestrickt worden waren, in ih-
ren Schulranzen. Natürlich wurden sie dabei beobachtet.
Jungen – es sind immer Jungen – klauten die Mützen
Weitere Kostenlose Bücher