Antonio im Wunderland
An-
tonio übergibt mir die Hotelgutscheine, und ich ziehe
mich damit auf einen Platz weit weg von ihnen zurück.
Im Flugzeug bestimme ich, wer von ihnen am Fenster
sitzt (Antonio, weil er die Reise bezahlt hat). Ich selbst sitze vor Benno, am Gang. Das Flugzeug startet. Hinter
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mir ist Ruhe. Zum ersten Mal seit Stunden höre ich kei-
nen der beiden reden. Dann schlafe ich ein.
Als ich aus unruhigen Träumen erwache und mich
umsehe, ist Antonio verschwunden. «Au’m Klo ist der»,
sagt Benno eine Spur zu laut. Er trägt Kopfhörer. Als
ich gerade nachsehen will, wo er bleibt, schiebt sich ein
Vorhang zur Seite, und Antonio Marcipane kommt den
Gang herunter. Er hat seine Hose gewechselt und trägt
jetzt senffarbene Bermuda-Shorts. Und dazu ein paar
weiße Thrombosestrümpfe, die ihm bis über die Knie
reichen. Er sieht aus wie die männliche Ausgabe von
Alice im Wunderland. Der herzzerreißende Stolz, mit
der er diese Montur trägt, macht mich ganz schwach.
Ich höre, wie einige Leute lachen, aber die kennen ihn
ja auch nicht. Die wissen nicht, wie sehr dieser kleine
Mann seine Reise herbeigesehnt hat, dass er fünfzig
Jahre darauf gewartet hat. Und jetzt will er alles richtig machen. Deshalb die Strümpfe. Gegen dicke Reisebei-ne. Aber die Hose?
«Was ist denn das für eine Hose? Haben wir Sommer
in New York?»
«Nee, aber in Napoli is warm heut’»
«Wir fliegen aber nicht nach Neapel.»
«Is egal, is der gleichbreite Grad.» 1
1 Da hat er Recht, jedenfalls so sehr beinahe, dass man es gelten lassen kann. Beide Städte liegen zwischen dem 40. und dem 41.
Breitengrad, Neapel ein paar Kilometer weiter nördlich. Für Pe-danten: New York liegt bei 40,46 Grad nördlicher Breite und Neapel bei Breitengrad 40˚ 51 N. Sie können beim Abendessen gegen Ihre Gäste um eine Flasche Wein wetten und anhand des Atlas die 166
Hm. Wie mir scheint, hat Antonio Sekundärliteratur
über New York gelesen. Antonio entspannt sich in sei-
nem Sessel und entdeckt den Rufknopf, von dem er in
den nächsten Stunden ausgiebig Gebrauch macht, um
sich zu erkundigen, wie lange es noch dauert und um
Sache nachschlagen. Sie gewinnen. Wenn Sie sich dann wieder al-le hinsetzen, wird einer fragen. «Wie war das noch mal mit dem Breitengrad?» Dann können Sie Folgendes antworten: Auf einem Globus verlaufen die Breitengrade parallel zum Äquator und sind gleichmäßig Richtung Nord- und Südpol aufgeteilt. Der Äquator ist der nullte Breitengrad, der Südpol ist der 90ste im Süden und der Nordpol der 90ste im Norden. New York und Neapel befinden sich also ziemlich genau 40 Breitengrade nördlich des Äquators.
Aber kein Breitengrad ohne Längengrad. New York liegt auf dem Längengrad 73,54 W und Neapel auf 14˚16' 60" E, also Ost.
Die Längengrade verlaufen vom Nord- zum Südpol bzw. umge-
kehrt. Der nullte Längengrad saust zufällig festgelegt durch einen Vorort von London namens Greenwich, der offensichtlich Publicity brauchte. Östlich und westlich von Greenwich umspannen jeweils 180 Längengrade die Erde. New York liegt also 71 Längengrade westlich von Greenwich und Neapel 14 Längengrade in östlicher Richtung. Und wo kommen jetzt diese zusätzlichen und prätentiö-
sen Zahlen her, die sich kein Mensch merken kann? Die kommen davon, dass es Menschen gibt, die alles supergenau wissen wollen.
Vierzigster Breitengrad reicht denen nicht, sie unterteilen deshalb die Grade noch einmal in Winkelminuten und -sekunden. (1 Grad hat 60 Minuten; 1 Minute hat 60 Sekunden). Eine Winkelminute entspricht genau 1,852 km, das ist eine Seemeile. In Minuten und Sekunden kann man also ziemlich genau ausdrücken, wo man sich gerade befindet. Da, wo die Erde am dicksten ist, also am Äquator, misst ein Breitengrad 60 Seemeilen (also in km), das ergäbe einen Erdumfang von elegant aufgerundeten 40 000 km, jedenfalls wenn die Erde so wie der Kinderzimmerglobus eine Kugel wäre. Ist sie aber nicht. Die Längen- und Breitengrade stimmen also nicht wirklich, und was ihre Form angeht, ist die Erde alles andere als perfekt.
Aber wollen wir sie dafür schelten?
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kostenlose Getränke zu ordern. Benno bleibt während
des Fluges bemerkenswert ruhig. Im Bordkino gibt es
eine Komödie, einen wirklich komischen Film. Die
Leute lachen unter ihren Kopfhörern. Nur einer ver-
zieht keine Miene: Benno. Er starrt auf den Monitor,
doch nichts kann ihm auch nur ein Lächeln entlocken.
Das macht mir irgendwie
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