Antonio im Wunderland
aller Mög-
lichkeiten, also zu Fuß und im raschen Wechsel mit
Taxi, Bus und Subway, durch Manhattan navigiert, ei-
nem Affen gleich, der im Dschungel die Lianen, Äste
und Bäume benutzt, ist er wirklich angekommen in
New York.
Manche lernen das rasch, es dient dem Überleben in
dieser mit Nieselregen-Feinstaub-Creme eingeschmier-
ten Riesenstadt. Vor manchen Bürohäusern hat man
mit Farbe kleine weiße Vierecke gemalt, darin stehen
die Raucher. Sie müssen 49 Stockwerke hinunterfahren
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und sich vor das Haus begeben, wenn sie eine Zigarette
qualmen wollen. Dort stehen sie wie Flamingos herum,
und wenn sie fertig sind, fahren sie wieder 49 Stock-
werke in die Höhe. Wenn jemand heimlich an seinem
Arbeitsplatz raucht, fliegt er raus, oder es wird in den
Abendnachrichten über ihn berichtet. Die Amerikaner
sind fest davon überzeugt, im freiesten Land der Welt
zu leben.
Immer weiterlaufen, laufen und immer wieder nach
hinten sehen, ob Antonio und Benno noch da sind.
Man kann sie leicht verlieren, denn Benno ist zwar
groß und schnell, aber Antonio eben nicht. Mit seinen
Dackelbeinchen macht er doppelt so viele Schritte wie
sein Freund, abends wird er sich zu der Behauptung
versteigen, er sei dadurch, rein mathematisch betrach-
tet, doppelt so weit gelaufen wie wir. Wenn ich mich zu
ihm umdrehe, blicke ich in sein gehetztes Gesicht, die
Augen hat er weit aufgerissen, er sieht zugleich panisch
und fasziniert aus.
Wir laufen zur Erholung die siebente Avenue hinauf
zum Central Park, wo kleine alte Frauen kleine alte
Hunde spazieren führen und Polizisten auf Pferden rei-
ten. Der Central Park bekommt den beiden gut. Sie sit-
zen lange auf einer Bank und diskutieren in ihrer Ge-
heimsprache. Dann sichtet Antonio einen mobilen
Hotdog-Getränke-Eis-Brezelstand. Tatendurstig lädt er
Benno und mich sowie mehrere Eichhörnchen zu einer
Pretzel ein. Er bestellt die Ware persönlich und lässt es
sich nicht nehmen, dem Verkäufer auf Italienisch zu
erläutern, dass man Pretzel mit «B» schreibt. An dem
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«tz» nimmt er keinen Anstoß. Der Verkäufer (ur-
sprünglich kam seine Familie aus Polen, leider nicht
aus Italien, und er kennt überhaupt keinen Mauro
Conti, was er bedauert) macht sich eilig davon, ich
kann mich nicht mehr erkundigen, wo es hier zum Mu-
seum of Natural History geht. Dort soll es Dinosaurier
geben. Zwar bin ich selber mit welchen unterwegs,
aber ich habe die große Hoffnung, dass die Kollegen
im Museum schweigen und das Wasser halten können.
Nachdem wir uns ein bisschen verlaufen haben, was
problemlos möglich ist, wenn man an dem kleinen See
in der Mitte des Parks nicht richtig aufpasst, stehen wir
vor dem Dakota Building, wo John Lennon erschossen
wurde und seine Witwe immer noch wohnt, was Anto-
nio zu der Annahme verleitet, dass sie ihn hat erschie-
ßen lassen, um die ganze Wohnung für sich haben zu
können.
Fünf Blocks nach Norden und ich stehe mit Antonio
und Benno vor einem gigantischen Skelett in der Ein-
gangshalle des Museums. Armeen von Kindern drän-
geln sich an uns vorbei, heute ist offenbar großer
Schulausflugstag. Benno fällt ein, dass er auf die Toi-
lette muss. Nachdem er geraden Schrittes den Abort
verlassen hat, sehen wir uns erst lebensgroße Puppen
von Ureinwohnern verschiedener Kontinente an, dann
vergiftete Pfeilspitzen aus Südamerika, Iglos, Pueblos,
Inkatempel und Indianerkrempel. Antonio wird ganz
stumm, längst hat er aufgehört, Wärter nach Mauro
Conti zu fragen und ob sie vielleicht Angehörige der
italienischen Gemeinde von Brooklyn seien. Er ist ver-
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ändert, seit wir uns Landkarten mit großen roten Pfei-
len angesehen haben. Da waren die Völkerwanderun-
gen zu sehen, die großen Trecks der Menschheitsge-
schichte, wenn Stämme Tausende von Kilometern
wanderten, weil es ihnen irgendwo zu kalt oder gefähr-
lich geworden war. Den Begriff «Zuhause» oder «Hei-
mat» gab es damals noch nicht, weil kaum jemand dort
blieb, wo er geboren worden war, also niemand ein
Zuhause hatte.
Der kleine Einwanderer neben mir wird darüber
ganz melancholisch. Auch er wird nicht sterben, wo er
geboren ist. Aber eigentlich dachte ich, er sei mit seiner Heimatlosigkeit versöhnt. Er hat ja Ursula und sein
Haus und zwei Töchter. Ich stupse ihn an und frage
ihn, was los ist: Da sieht er mich an und sagt, indem er
auf die große Karte deutet: «Bin ja nickte sehr weit ge-
kommene. Bloß na
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