Antonio im Wunderland
der
nächsten Haltestelle müssen wir raus.
Ich stupse Antonio an und deute mit dem Kinn zur
Tür. Wir erheben uns, kann man ja nicht rechtzeitig ge-
nug machen. Als der Zug hält, steigen wir aus. Ich habe
es plötzlich eilig, ziehe Benno («Heee, lass dat sin») am
Ärmel, drehe mich nach den Gangsta-Rappern um, da-
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bei stehen sie bereits auf dem Bahnsteig. Sie haben eine
andere Tür genommen. So blöd und aufgeregt, wie ich
in den sich leerenden Zug hineinstiere, wissen sie nun,
dass ich nach ihnen Ausschau halte. Als ich sie wie zu-
fällig neben meinen beiden Freunden stehen sehe, ver-
liere ich den Rest meines ohnehin zweifelhaften Hel-
denmutes. Klar, die werden uns gleich ausrauben. Sie
werden uns alles wegnehmen, und wenn sie schon mal
dabei sind, knallen sie uns gleich ab, denn sie sind mit
Sicherheit bewaffnet. Oder sie sind nicht bewaffnet,
aber bis unter die Mützen voll mit Crack. Sie wissen
nicht, was sie im Rausch tun, und wahrscheinlich wer-
den sie mich bloß aus Lust am Töten umbringen. Das
hat man schon gehört aus Amerika.
Ich sage zu Benno und Antonio: «Auf geht’s» und
deute Richtung Ausgang. Zum Glück scheinen meine
Saurier den Ernst der Lage noch nicht begriffen zu ha-
ben, denn sie laufen ganz gemächlich dem Ausgang
entgegen. Auch wieder typisch. Einer, nämlich ich, er-
kennt die Lage, die anderen verlassen sich darauf und
drehen alle Aufmerksamkeitsregler nach links. Wenn
es dazu überhaupt noch kommt, werde ich es sein, der
die Kerle auf der Polizeiwache beschreibt. Antonio und
Benno werden sich hinterher kaum an deren Aussehen
erinnern können, nur ich, weil ich bereits seit zwanzig
Minuten mit ihnen eine Gnu-Löwen-Beziehung habe.
Es kommt mir vor, als würden wir uns schon kennen,
dabei haben sie noch gar nicht «Gib mir dein Geld und
die Kreditkarten» gesagt.
Hinter der Drehtür sehe ich mich um, und tatsäch-
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lich: die beiden sind uns gefolgt. Jetzt stehen wir auf
der Straße, mitten in Queens, und ich kann es nicht
mehr hinauszögern: Ich muss nun einfach in die Karte
sehen, sonst verlaufen wir uns, und das würde die Sa-
che nicht gerade vereinfachen. Ich werde aber nicht
gleich schlau aus der verdammten Karte. Wo ist noch-
mal Norden, wir müssen nämlich nach Süden.
Nachdem ich eine Minute lang wie Christoph Ko-
lumbus verwirrt die Karte gedreht habe («Das hier ist
doch nie im Leben Indien!?»), sehe ich die Löwen wie-
der. Sie stehen in einiger Entfernung herum und sehen
natürlich in meine Richtung. Was für ein Geräusch
macht eigentlich ein Gnu? Macht es «muh» wie eine
Kuh, oder eher «blök» wie eine Riesenziege? Oder fügt
es sich still in sein Schicksal?
Manchmal kommen einem im Moment der größten
Verzweiflung plötzlich die besten Einfälle. Ich erinnere
mich auf einmal daran, dass mir ein Freund vor langer
Zeit erzählte, wie er sich in Rio de Janeiro vor Überfäl-
len geschützt hat. Das Schlüsselwort heißt: «Act cra-
zy». Er sagte: «Wenn du mal in eine Gruppe gefährli-
cher Typen gerätst, verhalte dich so auffällig wie mög-
lich. Sabbere dich voll, laufe wie ein Buckliger, beuge
den Oberkörper vor und zurück. Dann wirst du garan-
tiert nicht überfallen. Act crazy.» Das leuchtet mir ein.
Sogar cracksüchtige Ghettobrutalos haben vermutlich
eine gewisse Hemmschwelle, was Trottel angeht. Sie
wollen nicht schuld an epileptischen Anfällen sein oder
sich die Klamotten voll rotzen lassen. Wenn ich also
Antonio und Benno heil hier rausbringen will, muss ich
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tun, was ein Mann in Krisensituationen halt tun muss:
Mich wie ein Depp aufführen. Noch ein Kontrollblick
zu den Jungs – sie sehen immer noch zu uns rüber –
und dann lege ich los.
Ich lasse die Straßenkarte fallen und strecke den
Kopf vor, lasse meine Zunge raushängen und mache
dabei Geräusche wie ein verrücktes Gnu. Ich stampfe
mit den Füßen auf und wackle mit dem Schädel wie
früher im Keller meiner Eltern, wenn AC/DC lief. Ich
drehe mich ein bisschen im Kreis, ich lasse Spucke an
meinem Kinn herablaufen. Die Burschen kommen neu-
gierig näher und stellen sich zu meinen Begleitern, die
mich fassungslos ansehen.
«Tutto bene?» , ruft Antonio besorgt.
«Wat is’ denn mit dem loss?», fragt Benno, der noch
den ruhigsten Eindruck auf mich macht.
Der weiße Trainingsanzug fragt: «Alles okay, Mann?
Was ist los mit Ihnen, Sir?»
Der andere zieht ein mit Strasssteinen besetztes
Handy
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