Antonio im Wunderland
eilen an
uns vorbei, durch den Dunst der U-Bahn-Luft, die hier
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wie anderswo ganz besonders riecht. Das kommt, wie
mir scheint, wieder von dem öligen Überzug, den hier
der Boden, die Kacheln, die Kleidung und die Gleise
haben, diese Schutzschicht aus Ruß, Staub, Öl und
dem Atem der New Yorker. Vieles in New York wirkt
auf diese Weise schmutzig und vernachlässigt, aber
man kann sich die Stadt gar nicht anders vorstellen.
Dieser Ölfilm gehört dazu wie die Feuerleitern und die
Klimaanlagen, die wie rausgeschubst aus den Häusern
ragen.
Der Bahnsteig wäre, wie ich mit fachmännischem
Blick feststelle, nach den Maßstäben der Stadt Mün-
chen eindeutig zu schmal, die Beleuchtung vielleicht
gerade noch ausreichend, und die Beschilderung würde
bei uns einen Aufstand der Anständigen auslösen. Bei
mir ruft dieser Bahnsteig daher ein gewisses Un-
wohlsein hervor. Hier lauert Gefahr, finde ich, und bli-
cke immer wieder angespannt umher. Antonio und
Benno sind ebenfalls besorgt, denn die U-Bahnen
schießen wie Torpedos über die Gleise und machen ei-
nen Lärm, gegen den auf einem italienischen Kinder-
geburtstag geradezu Grabesstille herrscht.
Es ist das ungeheure Rappeln und Klappern, das
Jahrmarkthafte dieser Bahnen, das mich am meisten
beunruhigt. Unser Zug hält mit lautem Scheppern an
und entlässt eine Welle von völlig ungerührten Groß-
städtern. Natürlich gewöhnt man sich an den Lärm, es
ist ja logischer Lärm. Warum sollte es in einer Stadt, in
der alles größer, höher und voller ist, leiser als anders-
wo sein? Logisch ist, dass alles viel lauter ist. Diese Er-212
kenntnis nimmt mir einen Teil meiner Furcht, als ich
mich auf einen Plastiksitz zwischen Benno und Anto-
nio fallen lasse. Die beiden legen synchron die gefalte-
ten Hände in den Schoß und schweigen andächtig. Die
Geisterbahn fährt los, es schaukelt und ruckelt ble-
chern durch den Tunnel.
Uns gegenüber sitzen zwei Schwarze in einer Mon-
tur, mit der man heute niemanden mehr überraschen
kann. MTV hat diesen Kleidungsstil weltweit verbreitet,
er hat sich inzwischen bis nach Würzburg und Pinne-
berg durchgesetzt. Der eine Kerl hat einen weißen Trai-
ningsanzug an und eine weiße Kappe, deren Schirm
einen tiefen Schatten auf sein ohnehin dunkles Gesicht
wirft. Nur das Weiß in seinen Augen ist gut zu sehen.
Er starrt mich an. Der Junge, er mag so um die sieb-
zehn Jahre alt sein, trägt monströse Sneakers mit riesi-
gen offenen Schnürbändern. Ich schätze, er ist ziem-
lich groß. Sein Kopf wackelt bei jedem Schlag, den uns
die U-Bahn versetzt, hin und her.
Sein Kollege ist etwas farbenfroher gekleidet. Er
trägt eine Hängehose, die so locker sitzt, dass man ei-
nen schönen Blick auf seine Unterhose bekommt,
wenn man hinsieht. Ich bemühe mich, dies nicht zu
tun. Werde ich gerade durch das ostentative Weggu-
cken für ihn interessant? Oder mache ich damit etwas,
was er bei mir erreichen will? Bin ich gerade brav oder
aufsässig? Zeige ich Respekt, indem ich ihn nicht mus-
tere, oder sollte ich ihn ansehen, seinem Aussehen Tri-
but zollen? Die beiden reden nicht. Im Gegensatz zu
seinem Kumpel trägt der zweite keine Turnschuhe,
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sondern wanderschuhartige Klötze aus hellem Wildle-
der. Um seinen Kopf windet sich ein etwas überreich-
lich piratesk aussehendes schwarzes Tuch. Er hat einen
massiven Ohrring, einen flaumigen Schnauzbart und
offensichtlich schlechte Laune. Auch er wendet den
Blick nicht von mir, ich meine sogar, ein grimmiges
Grinsen bei ihm zu erahnen.
Ich will meinen Begleitern auf keinen Fall Angst ma-
chen, daher weise ich sie nicht auf die drohende Gefahr
von gegenüber hin. Die beiden haben ohnehin genug
damit zu tun, die anderen Fahrgäste zu mustern, die
müde und gleichgültig, stumm und fahl im Neonlicht
herumsitzen wie Leguane in einem Terrarium. Von Zeit
zu Zeit kann ich nicht widerstehen und schaue rüber.
Die beiden mustern mich weiterhin wie zwei Löwen,
die ein Gnu beobachten, bevor sie es reißen. Ich warte
eine Haltestelle ab. Wenn sie dann immer noch gu-
cken, haben sie es auf mich abgesehen.
Wir können natürlich sitzen bleiben, bis die Bur-
schen aussteigen. Wenn sie das bis zur Endstation
nicht tun, ist unser, oder besser: mein Schicksal besie-
gelt. Falls sie vorher verschwinden, ist alles in Ord-
nung. Aber was ist, wenn sie mit uns den Zug verlas-
sen? Viel Zeit bleibt nicht zum Überlegen, denn an
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