Antonio im Wunderland
Kreuz über der Kommode
im Wohnzimmer. Seine Sitzmöbel sind mit dicker
transparenter Plastikplane überzogen, damit sie länger
halten. Und an den Wänden hängen kitschig gerahmte
Fotos von Osterprozessionen in Little Italy und von der
Abschlussfeier der Polizei-Akademie. Die Carbones
haben einen außergewöhnlich großen Fernseher in ih-
rem außergewöhnlich kleinen Wohnzimmer, das sich
mit immer mehr Familienmitgliedern und Nachbarn
füllt. Alle wollen den lustigen Burschen sehen, den Pino
bei der Arbeit kennen gelernt hat.
Es kommen auch Cops in Uniform. Pinos drei Brü-
der sind ebenfalls Polizisten geworden, und sein Vater
war auch einer. Die Familie kam Anfang des letzten
Jahrhunderts nach Amerika und hat über Generationen
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immer nach den Gesetzen dieses großartigen Landes
gelebt, wie Pino für meinen Geschmack einige Male zu
oft betont. Sie sind Amerikaner, gute Amerikaner. Sie
haben Opfer gebracht in Vietnam und im ersten Irak-
Krieg. Als Pino das erzählt, kommt es mir vor, als wolle
er damit sagen: Wir haben Soldaten beerdigt, also ge-
hört uns etwas von diesem Land.
Pino gibt mir ein Bier und zeigt mir den Garten, der
nicht der Rede wert ist. Er ist so winzig, dass beinahe
nur der allerdings gigantische Grill hineinpasst, und er
wird von einem schmutzigen Lattenzaun begrenzt, der
an die zwei Meter hoch ist und dem Gärtchen auch
noch das letzte bisschen Licht nimmt. Außerdem ste-
hen da noch ein Tisch und zwei Stühlchen, auf die wir
uns setzen. Wir nippen an unserem Bier, und ich sehe
ihm zu, wie er die salsicce wendet. Ich fühle mich wohl, gut aufgehoben. Es ist wie in Campobasso.
Zwischendurch kommt Pinos Frau Rosa nach drau-
ßen und meckert über irgendeinen Ottavio, der sich
nicht blicken ließe. Das ist der Sohn der Carbones,
neunzehn, ein schwieriges Alter.
«Ich mag deinen Schwiegervater», sagt Pino und legt
Fisch auf den Grill. «Ich mag ihn wirklich. Er erinnert
mich an alles, was mein Großvater mir von zu Hause
erzählt hat.» Er nennt Italien sein Zuhause, obwohl er
noch nie dort war.
«Interessant, denn er lebt schon seit vierzig Jahren in
Deutschland», sage ich. «Er ist auch sehr deutsch,
manchmal.»
«Mag sein», antwortet Pino, «aber deine Wurzeln
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verlierst du nie. In dem Moment, wo ich ihn in diesem
Büro zum ersten Mal gesehen habe, wusste ich, dass er
aus meiner Gegend kommt.»
«Woran haben Sie das gesehen?»
«Ich habe es gar nicht gesehen. Ich habe es gefühlt.»
Antonio hat inzwischen die ganze Familie reihum ge-
fragt, ob jemand zufällig Mauro Conti kenne (leider
nein), und ihnen erzählt, dass er hier in einer geheimen
Mission zur Rettung von Campobasso sei. Er genießt
die Aufmerksamkeit der Carbones in vollen Zügen.
Dann wird gegessen. Wir Italiener knabbern ja gern.
Bisschen hiervon, bisschen davon. So ein Barbecue
dauert dann eben den ganzen Tag. Es ist zwar keine
Grillsaison, aber das scheint hier niemanden zu stören.
Gegen Abend gibt es auch noch Spaghetti, die von Rosa
und ihren zwei Töchtern mit ragù con polpette serviert werden. Die ältere Tochter, sie heißt Livia, ist so unglaublich hübsch, dass sie die ganze Familie noch ein-
mal ins Unglück stürzen wird, wie Antonio anerken-
nend ausruft. Das ist ein riesiges Kompliment und wird
auch so aufgefasst. Ich liebe dieses Theater.
Es ist schon langsam Zeit, aufzubrechen und in un-
seren Läusebunker zurückzukehren, da bemerke ich,
dass ich Benno schon eine ganze Weile nicht mehr
gesehen habe. Man muss sich um ihn eigentlich kei-
ne Sorgen machen, denn er entfernt sich normaler-
weise nicht von der Truppe. Er hat die ganze Zeit auf
einem Sofa gesessen und still seine Würstchen ge-
mampft. Es gehe ihm gut, sagte er, wenn ich alle
Stunde bei ihm fragte, ob alles okay sei. Er verdrückte
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zwei Dutzend Würstchen und zwei Steaks und trank
dazu zwei Flaschen Wein, und plötzlich war er ver-
schwunden. Bevor ich mich überall umsehe, gehe ich
erst einmal Richtung Bad. Benno verbringt ungefähr
ein Zwölftel des Tages auf dem Klo, und daher liegt
es nahe, dass ich ihn dort finde. Die Tür ist verschlos-
sen. Ich klopfe. Es erinnert mich an unsere erste Be-
gegnung.
«Benno, bist du da drin?»
Keine Antwort.
«Bist du das, Benno?»
Nichts.
Ich lauter: «Benno!»
Nochmal klopfen. Mit Nachdruck. Wenn niemand
antwortet, ist es immer Benno. «Ich gehe hier nicht
weg, bist du antwortest. Ist alles okay mit dir,
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