Antonio im Wunderland
Zu den wenigen Gemeinsamkeiten des Bayerischen und des Rheinischen gehört die vor allem ländliche Neigung, den Nach- vor dem Vornamen zu nennen, sodass die Bezeichnung Vor- und
Nachname ihre Bedeutung in paritätischer Eintracht verlieren, was die Sache wieder nicht so schlimm macht. In diesem Falle hieße der Patient von Amts wegen Peter Leuven.
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Bett, wo er sich bis zum Kinn zudeckt. Er sieht gar
nicht so elend aus, körperlich fehlt ihm auch nichts.
«Was ist denn los, Toni Casinista?»
Normalerweise reagiert er freudig auf seinen Spitz-
namen. Er will ihm dann sofort alle Ehre machen. Aber
heute nicht.
«Kein Ahnung, bin nickte so rechte lustig heut’.»
«Und woran liegt’s?»
«Iste so anders hier wie zu Haus.»
Das stimmt natürlich. Zu Hause steht er völlig im Mit-
telpunkt seiner kleinen Welt. Da schlägt keine Tür zu,
ohne dass er weiß, warum. Dort kennt er jeden Pfad, dort
kann er im Supermarkt ungestraft Waren umetikettieren
und so bares Geld sparen. Dort wäscht er jede Woche
sein Auto und sieht sich anschließend die Bundesliga an.
Aber hier ist das anders. In New York kennt ihn niemand.
Keiner ist scharf auf seinen Gesang, auf seine philoso-
phischen Ausführungen, auf seine politischen Ansich-
ten. Hier ist er bloß ein Molekül unter Millionen anderen
Molekülen. Hier ist er – fremd. Und das gefällt ihm nicht.
Es macht ihn unsicher. Es verändert ihn. Aus dem
schlauen Antonio, der immer eine gute Idee hat, um sein
Leben noch schöner zu machen, wird hier Stunde um
Stunde sichtbarer ein alter Mann, der nicht einmal die
Himmelsrichtung, in die er schaut, bestimmen kann.
Sein Hotelfenster geht nach Norden, aber zwei Tage lang
hat er gedacht, es liege zum Osten hin. Als wir darüber
gestern Abend sprachen, wurde er beinahe wütend. Und
heute ist er deswegen krank. Er hat Heimweh.
«Willst du nach Hause?»
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«Keiner Fall!»
Ich würde das an seiner Stelle auch nicht zugeben.
Die Niederlage wäre einfach zu groß.
Ich versuche ihn aufzumuntern, indem ich ihm sage,
dass wir nach Little Italy laufen wollen. Benno sei auch
schon ganz wild darauf. Letzteres stimmt so nicht, aber
Benno wird sicher nicht das Gegenteil behaupten.
«Wir wollen doch Mauro finden», setze ich hinzu,
auch wenn ich ahne, dass Antonio ihn gar nicht wirk-
lich sucht.
«Okee, gehen wir. Vielleickte besser als hier rumme-
liegen.»
Er zieht sich mühsam an, während ich mich im Zim-
mer umsehe. Außer der Eule, dem Saurierzahn und ei-
nem Tablettendöschen hat Benno keinerlei Gegenstän-
de von sich im Zimmer verteilt. Es sieht aus, als könne
er jederzeit wieder aufbrechen. Der Koffer liegt auf ei-
nem Stuhl, zugeklappt. Schade.
Als Antonio sich für den Stadtbummel klar gemacht
und Duft aufgetragen hat, kehren wir zu Benno zurück,
der die Philosophie des «All you can eat» verinnerlicht
hat und ganz wörtlich nimmt. Mir scheint es sogar,
dass er diesen Satz als Befehl auffasst.
Unser heutiger Gewaltmarsch führt uns geradewegs
den Broadway hinunter. Diese berühmte Straße kann es
in der Realität nicht wirklich mit ihrem Ruf aufnehmen.
Relativ unbeeindruckt marschieren Benno und Antonio
stadtabwärts, in einem Schlenker nehmen wir das
Empire State Building mit, wo wir kaum eine Stunde in
einer Kordelschlange darauf warten, nach oben zu fah-
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ren und die Aussicht zu genießen. Benno macht ein
paar Bilder, Antonio interviewt den Aufzugmann, der
den ganzen Tag mit dem Lift rauf- und runtersaust, um
die internationale Gemeinschaft von Nichtnewyorkern
zur Aussichtsplattform zu bringen. Seine Familie
kommt ursprünglich aus Deutschland, sie ist um 1890
übergesiedelt. Er kann aber trotzdem kein Deutsch.
Nein, auch kein Italienisch, leider. Und Mauro Conti
kennt er nicht. Aber er kann sich ja auch nicht alle Na-
men merken.
Das Empire State Building war das erste Gebäude,
das Antonio jemals mit Namen kannte, das lag natür-
lich an King Kong. Jahrelang hat er dieses Haus in sei-
nen Träumen bewohnt, hat vom oberen Stockwerk sei-
ner in Italien verbliebenen Familie zugewinkt. Als er
tatsächlich oben ist, wird seine Laune aber nicht bes-
ser, denn egal, wohin er schaut, nur Häuser, Häuser,
Häuser und kein Fleck, der noch frei wäre, wo man
noch Pionier sein könnte. Die Welt ist über seine
Träume hinweggegangen, New York hält sich einfach
nicht mehr an das Versprechen, das es dem kleinen An-
tonio damals gegeben hat: Ich warte auf
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