Anubis 02 - Horus
gehandelt. Wahrscheinlich würde er sich in den nächsten Tagen über sein eigenes Verhalten wundern. Aber er würde vermutlich auch nie begreifen, was für ein Glück er trotz allem gehabt hatte. Sie hätte ebenso gut auch dafür sorgen können, dass er plötzlich sein Interesse an dem einen oder anderen hübschen Knaben oder jungen Mann hier im East End entdeckte …
Bast sah ihm nach, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, und gönnte sich für die gleiche Zeit den kleinen Luxus, weiter in bizarren Rachevorstellungen zu schwelgen. Das war zwar albern und tatsächlich nichts anderes als kindisch, aber es half, auch wenn sie solcherlei Vergeltungsfantasien nie nachgab …
Nun ja. Höchst selten.
Wirklich nicht oft.
Bast lächelte noch einen Moment still in sich hinein, dann schüttelte sie die kindischen Gedanken endgültig ab und ging weiter.
Der Schatten oben am Ende der Treppe erwachte raschelnd aus seinem Dösen, als er ihr Nahen bemerkte, und Bast spürte, wie aufmerksam und bereit er plötzlich war; alles andere als der lustlos herumlungernde Türsteher, der nur die Minuten zählte, die er noch ausharren musste. Aber für ihn war sie schließlich auch nicht mehr als ein – beunruhigend großer – Schatten, der sich aus der Dunkelheit heraus auf ihn zubewegte.
Als sie die Treppe auf halbe Höhe erklommen hatte, trat er ihr bis an den Rand des kleinen Absatzes oben entgegen, und sie spürte, wie seine Aufmerksamkeit deutlicher Anspannung wich. »Kann ich etwas für Sie tun, Sir …«, fragte er, stockte für einen Moment und verbesserte sich dann gleichermaßen irritiert wie überrascht, als ihr Gesicht in den Lichtschein der beiden kleinen Gaslaternen hinter ihm geriet: »… Ma’am?«
Bast setzte ihren Weg unbeeindruckt und ohne etwas zu sagen fort, und ganz wie sie erwartet hatte, blieb er nicht einfach stehen, bis er eine zufrieden stellende Antwort bekommen hatte, wie er es zweifellos bei jedem anderen getan hätte, sondern wich instinktiv zwei oder drei Schritte zurück, sodass sie sich auf gleicher Höhe gegenüberstanden, als auch Bast endlich stehen blieb. Wortwörtlich. Er war einer der wenigen Männer, die nicht nur ebenso groß waren wie sie selbst, sondern sie tatsächlich noch eine Winzigkeit überragte. Und er war unglaublich massig. Das allermeiste davon war Fett, und Bast hätte kein zweites Mal hinsehen müssen, um zu erkennen, dass der Bursche alles andere als gut in Form oder auch nur gesund war. Trotzdem war er ein Koloss, dessen bloßer Anblick sicherlich ausreichte, um die meisten zu beeindrucken.
»Ich bin auf der Suche nach jemandem«, antwortete Bast mit einiger Verzögerung. Sie lächelte, so freundlich sie nur konnte, was die Verwirrung ihres Gegenübers nicht unbedingt zu mindern schien. Er bewegte sich wieder einen halben Schritt auf sie zu oder versuchte es zumindest, hielt aber genauso schnell wieder inne und schien für einen Moment einfach nicht zu wissen, wie er reagieren sollte. Schließlich fuhr er sich mit dem Handrücken über das stoppelbärtige Doppelkinn und sagte: »Hier? Ich meine … wissen Sie, wo Sie hier sind, Ma’am?«
Besonders das letzte Wort kam ihm sichtlich schwer über die Lippen, und obwohl Bast es schon unzählige Male erlebt hatte, amüsierte sie sich doch für einen Moment über den Ausdruck von Hilflosigkeit und Verwirrung auf seinen Zügen, die sicherlich noch ungleich größer gewesen wäre, hätte sein Stolz es zugelassen. Im allerersten Moment war er offensichtlich nicht ganz sicher gewesen, doch mittlerweile musste er nicht nur an ihrem Kleid und den Konturen darunter erkannt haben, dass er einer Frau gegenüberstand, wenn auch vielleicht der ungewöhnlichsten, die ihm je begegnet war. Es war nicht nur der Umstand, dass sie fast so groß war wie er und ihr Gesicht schwärzer als die Nacht, aus der sie aufgetaucht war, oder ihre ungewöhnliche Kleidung und ihre stolze Haltung. Tief in sich waren sie Seelenverwandte, das spürte Bast. Mochten sie auch äußerlich so gut wie nichts gemeinsam haben, so zählten sie doch beide nicht zu der Beute, sondern zu den Jägern, und er musste das ebenso deutlich spüren wie sie, auch wenn er mit diesem Gefühl zweifellos nichts anfangen konnte.
»Es ist ein wenig kompliziert zu erklären«, sagte sie, immer noch lächelnd, aber ohne seinen Blick dabei loszulassen. »Wenn Sie mich einfach einlassen, schaue ich mich selbst um.«
Sie wollte weitergehen, doch der Riese vertrat ihr – auch wenn
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