Anubis - Roman
ihn Wilson jetzt maß, lehrte ihn eines Besseren. Wilson war weder ein Dummkopf, noch würde er sich von Graves’ überheblichem Benehmen und ihren akademischen Titeln beeindrucken lassen. Er konnte natürlich nicht wissen, was sich hier zugetragen hatte, aber er spürte offensichtlich, dass sie etwas damit zu tun haben mussten.
»Sie haben sie so gefunden?«, vergewisserte sich Graves. »Ich meine …?«
»Unbekleidet, wenn es das ist, was Sie wissen wollten, ja«, sagte Wilson ungerührt und wandte Graves jetzt wieder seine volle Aufmerksamkeit zu. »Und in einem völlig hysterischen Zustand. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um überhaupt ein vernünftiges Wort aus ihr herauszubekommen. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass sie zu Ihnen gehört, hätte ich sie erst einmal in die Stadt mitgenommen, zum Arzt. Was tut sie überhaupt hier?«
»Miss Preussler ist erst seit wenigen Tagen bei uns«, antwortete Graves. Er deutete auf Mogens. »Genau genommen gehört sie zu Professor VanAndt.«
Mogens war sicher, dass Graves seinen akademischen Grad ganz bewusst erwähnt hatte, aber er war ebenso sicher, dass Wilson dieser Umstand so wenig entgangen war wie ihm und dass er sein Misstrauen vermutlich eher noch schürte, statt es zu besänftigen. Wilson wandte noch einmal den Kopf in seine Richtung und maß ihn mit einem langen, taxierenden Blick von Kopf bis Fuß, dann hob er – obwohl er den Hut in den Händen trug – die Linke an die Stirn und tippte mit Zeige- undMittelfinger dagegen, als befände sich seine Krempe noch dort oben. »Ach ja, Professor «, sagte er. »Ihre … Haushälterin. So sagten Sie doch, nicht wahr?«
»Das ist eine etwas kompliziertere Geschichte«, sagte Graves rasch, bevor Mogens antworten konnte. »Und sie hat auch ganz sicher nichts mit dem zu tun, was Miss Preussler zugestoßen ist.« Er schüttelte ein paarmal hintereinander und übertrieben heftig den Kopf, bevor er sich leicht vorbeugte und Miss Preussler mit einem langen, gespielt verständnislosen Blick maß. »Sie hatte keine Kleider an, sagen Sie?«, vergewisserte er sich. »Hat man sie …?«
»Das war auch mein erster Gedanke«, sagte Wilson, als Graves nicht weitersprach. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe sie danach gefragt, aber sie sagt, nein. Jedenfalls«, schränkte er in etwas leiserem Tonfall und mit einem neuerlichen, sonderbaren Blick in Mogens’ Richtung ein, »soweit ich sie verstehen konnte.«
»Aber warum haben Sie sie nicht in die Stadt gebracht?«, fragte Graves. »Die Frau gehört zu einem Arzt!«
»Selbstverständlich«, sagte Wilson. »Aber es war ihr ausdrücklicher Wunsch, hierher gebracht zu werden. Ich habe versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen, aber es ist mir nicht gelungen. Ich kann niemanden festnehmen, nur weil er oder sie vielleicht Opfer eines Verbrechens geworden ist. Die Frau war nicht verletzt, und trotz ihres hysterischen Benehmens war sie ganz offensichtlich zugleich auch genug Herrin ihres Verstandes, um ihren Willen klar zu formulieren. Sie wollte hierher. Zu jemandem namens Mogens.«
»Das bin ich«, antwortete Mogens rasch.
»Mogens …?«, wiederholte Wilson. »Sagten Sie nicht, Ihr Name wäre –«
»Mogens VanAndt«, unterbrach ihn Mogens. »Ich bin gebürtiger Flame. Meine Eltern stammen aus Brüssel.«
»Das liegt in Europa, nicht wahr?«, fragte Wilson.
Mogens zollte ihm in Gedanken noch ein wenig mehr Respekt, als er es ohnehin bisher schon getan hatte. Selbst die Studenten, die er in den letzten neun Jahren unterrichtet hatte, wussten nicht alle, wo Brüssel lag. Bei einigen von ihnen argwöhnte er sogar, dass sie nicht einmal wussten, wo Europa war. Er nickte. »Ja. Aber ich bin hier aufgewachsen. Und seit meinem vierten Lebensjahr amerikanischer Staatsbürger, bevor Sie fragen.«
Der gutmütige Ausdruck, der trotz allem noch immer irgendwo in Wilsons Augen gewesen war, erlosch, und Mogens begriff, dass er soeben einen schweren Fehler begangen hatte. Er hätte jetzt selbst nicht mehr sagen können, warum ihm dieser Blödsinn überhaupt entschlüpft war, doch ganz offensichtlich fühlte sich Wilson von ihm angegriffen und damit augenscheinlich in seinem Misstrauen bestätigt.
»Wie kommen Sie darauf, dass Miss Preussler Opfer eines Verbrechens geworden ist?«, fragte Graves spröde.
Wilson maß ihn mit einem fast schon verächtlichen Blick und drehte sich demonstrativ ganz zu Mogens um. »Miss … Wie war ihr Name noch gleich?«
»Preussler«,
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