Anubis - Roman
wiederholte Mogens verständnislos. »Wie meinst du das?«
»Leben, Mogens, Leben«, antwortete Graves. »Hast du dich niemals gefragt, ob es dort oben vielleicht Leben gibt? Menschen wie wir oder vielleicht auch andere, bizarrere Wesen?«
Selbstverständlich hatte sich Mogens diese Frage schon gestellt, so wie sie sich wohl jeder irgendwann einmal stellt, wenn er in den Nachthimmel hinaufsieht und diese unverstellbare Menge von Sternen erblickt. Er war nie zu einer Antwort gelangt, und er fand auch nicht, dass jetzt der passende Moment war, um darüber zu diskutieren.
Er kam allerdings nicht dazu, eine entsprechende Bemerkung zu machen, denn in diesem Moment sagte eine Stimme hinter ihm: »Was für ein gotteslästerlicher Unsinn, Doktor Graves!«
Mogens fuhr beinahe erschrocken herum, während Graves noch einmal zwei oder drei Atemzüge verstreichen ließ, bevor er sich betont ruhig umwandte und Miss Preussler mit einem Blick maß, in dem sich ein leicht amüsiertes und ein verächtliches Glitzern um die Vorherrschaft stritten. »Miss Preussler«, sagte er. »Was tun Sie hier, meine Liebe? Sie sollten im Bett liegen und sich ausruhen, nach allem, was Sie mitgemacht haben.«
Miss Preussler kam noch zwei Schritte näher, stemmte die Fäuste in die ausladenden Hüften und maß den gut einen Fuß größeren Graves mit einem Blick, der ihn plötzlich irgendwie kleiner wirken ließ als sie selbst. »Ja, das würde Ihnen gefallen«, sagte sie nickend. »Dann würde ich diese gotteslästerlichen Reden nicht hören, die Sie schwingen, nicht wahr?« Sie drehte mit einem Ruck den Kopf und funkelte nun Mogens kein bisschen weniger verärgert an, sodass er sicher war, ihr ganzer, heiliger Zorn würde sich nun auf ihn entladen. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme jedoch unerwartet sanft; eindeutig mehr enttäuscht und besorgt als zornig.
»Und Sie, Professor?«, sagte sie kopfschüttelnd. »Sie stehen da und hören sich dieses Geschwätz kommentarlos an?Ein Mann von Ihrer Bildung? Ich hätte wahrlich mehr von Ihnen erwartet.«
Mogens wusste im ersten Moment nicht einmal, was er sagen sollte. Als er Miss Preussler das letzte Mal gesehen hatte – vor zwei Stunden –, da hatte sie leichenblass und vollkommen erschöpft und verängstigt auf dem Bett gelegen, und er wäre nicht einmal sicher gewesen, dass sie auch nur die Kraft aufbrachte, aufzustehen. Jetzt war weder von dem einen noch dem anderen irgendetwas zu entdecken. Miss Preussler hatte sich nicht nur angezogen, ihr Haar gerichtet und sich gründlich gesäubert, sie war auch wieder ganz die alte, resolute Betty Preussler, die nichts in ihrer Umgebung duldete, was ihrem Weltbild, ihrer Sicht der Dinge und ihrem Gefühl für Sauberkeit und Anstand widersprach. Hätte er den bejammernswerten Zustand, in dem sie sich am Morgen befunden hatte, nicht mit eigenen Augen gesehen, so hätte er niemals für möglich gehalten, dass sich ein Mensch derart schnell davon erholen konnte.
»Aber ich bitte Sie, meine liebe Miss Preussler«, sagte Graves. »Lassen Sie Ihren gerechten Zorn nicht an dem armen Professor aus. Wir haben eine rein akademische Diskussion geführt, das ist alles.«
»Eine rein akademische Diskussion, so?«, wiederholte Miss Preussler, während sie sich wieder ganz zu Graves herumdrehte. Ihre Augen funkelten kampflustig. »Es mag sein, dass ich nichts von Ihren wissenschaftlichen Themen verstehe, mein lieber Doktor«, sagte sie, »denn ich bin schließlich nur eine dumme alte Frau aus einer kleinen Stadt. Aber ich erkenne sehr wohl, wenn jemand den HERRN verspottet – auch wenn er versucht, diese Ketzereien als wissenschaftliche Diskussion zu tarnen.«
Graves wirkte für einen kurzen Moment verstört, und Mogens hatte alle Mühe, das schadenfrohe Grinsen zu unterdrücken, das sich auf seinem Gesicht ausbreiten wollte. Er hatte – ein einziges Mal, in all den Jahren! – versucht, diese Art von Gespräch mit seiner Zimmerwirtin zu führen, und diesen Versuch wohlweislich niemals wiederholt. Graves war weder entsprechend vorgewarnt, noch genoss er Miss Preusslers uneingeschränkte Sympathie wie er selbst, und so beging er den Fehler, es nicht gut sein zu lassen, sondern ihr zu antworten. »Aber Miss Preussler, ich bitte Sie!«, sagte er. »Niemand wollte Ihnen zu nahe treten, weder Ihnen noch Ihrem Glauben, das versichere ich Ihnen. Kommen Sie, meine Liebe …«
Er streckte den Arm aus, wie, um ihn ihr um die Schulter zu legen, aber er führte die
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