Anubis - Roman
änderte sich etwas in der bisher scheinbar willkürlichen Bewegung der peitschenden Fäden. Etwas wie ein Muster machte sich darin bemerkbar, langsam und nahezu widerwillig zuerst, aber zunehmend. Nach und nach begannen sich die einzelnen zuckenden Nervenfäden wieder zusammenzufügen, bis sie etwas wie die klumpig verwachsene, böse Parodie einer menschlichen Hand zu bilden schienen. Der Anblick war auf seine Art beinahe noch grässlicher als vorher, als seine Finger auseinandergeplatzt waren; denn die Zerstörung von etwas Vertrautem war trotz allen Entsetzens, das sie begleiten mochte, noch immer leichter zu ertragen als der Anblick dieser grässlichen, durch und durch un-menschlichen … Dinge , die sich zu der höllischen Verhöhnung einer menschlichen Hand zusammenballten.
Mogens ertrug den Anblick nicht länger als eine Sekunde, bevor er mit einem wimmernden Laut die Augen schloss. Aber es nutzte nichts. Er sah die grässlichen, peitschenden Stränge noch immer mit der gleichen Deutlichkeit vor sich. Er würde sie nie wieder vergessen können.
»Und das ist dein Beweis?«, hörte er sich selbst fragen. Es schien nicht einmal seine eigene Stimme zu sein, die diese Worte formte, denn er war im Augenblick gar nicht in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn einen zusammenhängenden Satz zu formulieren. »Wofür? Dass du schon vor langer Zeit und unwiderruflich wahnsinnig geworden bist?«
»Ich kann deine Reaktion verstehen, Mogens«, antwortete Graves, ruhig und mit einer so gelassen, fast amüsiert klingenden Stimme, dass Mogens unwillkürlich die Augen wieder öffnete und ihn ansah. Graves hatte bereits einen seiner Handschuhe wieder übergestreift – das schwarze Leder pulsierte und zuckte, als versuche sich, was immer darunter auch eingesperrt sein mochte, mit verzweifelter Kraft gegen sein Gefängnis zu wehren – und war gerade damit beschäftigt,auch den anderen anzuziehen. Er lächelte, doch Mogens entging nicht der Ausdruck verbissener Konzentration, der sich dicht unter der Oberfläche dieses Lächelns verbarg, ebenso wenig wie das Netz aus feinen Schweißperlen, das auf seiner Stirn erschienen war. Was immer Graves tat, forderte all seine Kraft von ihm.
»Mich hätte es vermutlich auch zu Tode erschreckt, wäre ich unvorbereitet mit diesem Anblick konfrontiert worden«, fuhr er fort. »Gottlob ist mir eine gewisse … Übergangsfrist geblieben, mich daran zu gewöhnen.«
»Und das ist also dein Beweis«, sagte Mogens noch einmal. Beinahe zu seiner eigenen Überraschung gelang es ihm, seine Stimme – annähernd – ruhig klingen zu lassen.
»Durchaus«, antwortete Graves. Er zog auch den zweiten Handschuh bis zum Gelenk hinauf, überzeugte sich mit zwei raschen, aber sehr aufmerksamen Blicken davon, dass die Handschuhe fest und sicher saßen, und wandte sich dann zu Miss Preussler um.
»Ich bitte Sie aufrichtig um Vergebung, meine Liebe«, sagte er. »Ich hätte Ihnen das gerne erspart, aber ich fürchte, uns bleibt im Moment keine Zeit mehr für lange Erklärungen. Und um deine Frage zu beantworten«, er drehte sich wieder zu Mogens herum, »so hätte ich von dir als Wissenschaftler erwartet, dass du ein wenig gelassener mit so etwas umgehst.«
»Gelassener?«, keuchte Mogens. »Damit?«
»Du solltest wissen, dass auch ein Fehlschlag durchaus als wissenschaftlicher Beweis anzuerkennen ist«, antwortete Graves. »Was mir damals widerfahren ist, war ein schrecklicher Unfall. Ein noch dazu voll und ganz selbst verschuldeter Unfall, herbeigeführt aus Ungeduld und Gier, und wenn es überhaupt eine Entschuldigung dafür gibt, dann die, dass ich jung und unerfahren und ungeduldig war.« Er hob demonstrativ die Hände vor das Gesicht, und obwohl sie nun wieder in ihren schwarzen Handschuhen steckten, musste Mogens sich beherrschen, um nicht erneut mit einem entsetzten Laut zurückzuprallen. »Aber ich habe für diese Dummheit bezahlt, Mogens.«
»Ja«, sagte Mogens. »Mit deinem Verstand.«
»Ich habe mit Dingen experimentiert, von denen ich keine Ahnung hatte«, antwortete Graves ungerührt. »Um ein Haar hätte es mich das Leben gekostet, und auch so ist der Preis, den ich dafür bezahlt habe, entsetzlich. Und dennoch war es der unumstößliche Beweis, dass ich auf dem richtigen Wege war.«
»Auch noch den Rest deines Körpers zu verlieren?«, fragte Mogens.
»Aber ich habe nichts verloren «, antwortete Graves kopfschüttelnd. »Ganz im Gegenteil. Meine
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