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Anubis - Roman

Titel: Anubis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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dass Graves es nicht mehr wagte, ihm noch einmal ins Wort zu fahren, sondern ihn nur verdutzt und zugleich ein wenig erschrocken ansah.
    »Ich weiß nicht, wer diese Schriftzeichen geschaffen hat«, fuhr er fort. »Wenn dich mein erster, höchst subjektiver Eindruck interessiert, dann würde ich sagen, es war jemand, der versucht hat, in Hieroglyphen zu schreiben, ohne sie lesen zu können.« Er zuckte fast unglücklich mit den Achseln. »Ungefähr so wie ein Analphabet, der wahllos Buchstaben aus einem Lexikon nachzeichnet und sich dann wundert, dass die Worte keinen Sinn ergeben.«
    Graves wirkte für einen Moment sehr verwirrt, dann nachdenklich. »Du meinst, jemand hätte versucht, in Hieroglyphen zu schreiben, ohne Hieroglyphen lesen zu können.«
    »So ungefähr«, bestätigte Mogens.
    »Und wenn es genau andersherum war?«, fragte Graves. »Wenn das hier das Original ist?«
    Mogens starrte ihn verblüfft an. Der Gedanke war so absurd – und zugleich so nahe liegend –, dass er sich vergebens fragte, wieso er nicht von selbst darauf gekommen war. Wenn es an dieser sonderbaren Schrift etwas gab, dessen er sich vollkommen sicher war, dann, dass sie unvorstellbar alt war. Zwar waren die Bilder vollkommen unbeschädigt und die Farben von einer Intensität und Leuchtkraft, als wären sie erst gestern auf den steinernen Untergrund aufgetragen worden, aber er konnte die Jahrtausende, die diese Bilder gesehen hatten, fast mit Händen greifen.
    Hinter ihnen polterte etwas, und dann drang Toms Stimme verzerrt aus der Tiefe zu ihm hoch: »Doktor Graves! Professor!«
    Mogens und Graves fuhren erschrocken herum und waren nahezu gleichzeitig bei der Treppe. Mogens war umsichtig genug, Graves den Vortritt zu lassen, denn dieser machte ganz den Eindruck, als ob er ihn glattweg über den Haufen rennen würde, wenn er nicht schnell genug war, folgte ihm aber so dicht, wie es nur ging.
    Die Treppe führte mehr als ein Dutzend Stufen weit in engen Windungen nach unten. Die bizarren Stufen waren so steil, dass Mogens schon unter normalen Umständen und bei ausreichender Beleuchtung Hemmungen gehabt hätte, auch nur einen Fuß darauf zu setzen, aber Graves überwand immer zwei oder drei davon mit tollkühnen Sprüngen, sodass der Abstand zwischen ihnen wieder größer wurde, blieb aber dann, kaum unten angekommen, so abrupt stehen, dass Mogens es zu spät registrierte und gegen ihn prallte. Graves machte einen hastigen Ausfallschritt nach rechts, um sein Gleichgewicht wieder zu finden, und auch Mogens gewann den Kampf um seine Balance – wenn auch mühsam – und setzte automatisch zu einer Entschuldigung an.
    Die Worte blieben ihm buchstäblich im Hals stecken, als er sah, was sich hinter Graves befand.
    Der Raum, in den sie die Treppe geführt hatte, war gewaltig – kein gemauertes Zimmer, sondern eine weitläufige, auf natürliche Weise entstandene Höhle, von deren gewölbter Decke bizarre Kalkgewächse herabhingen und hier und da Wasser tropfte. Auch der Boden war uneben, mit Rissen und gefährlichen Stolperfallen übersät, doch alledem schenkte Mogens nur einen flüchtigen Blick und weniger als einenflüchtigen Gedanken. Er starrte einfach nur fassungslos das Gebilde an, das dicht vor Graves auf den schwarzen Wellen eines schmalen Kanals schaukelte, der die Höhle in zwei ungleich große Hälften zerteilte.
    Es war ein Boot. Der schlanke, an beiden Enden nach oben gebogene Bug, der an die einfachen Schilfboote erinnerte, wie sie selbst heutzutage noch auf manchen Flüssen im Norden Afrikas in Gebrauch waren, allerdings gänzlich aus ebenholzschwarzem, glänzend poliertem Holz bestand, musste gute sechs oder sieben Meter messen, und die hoch gebogenen Enden waren mit prachtvollen, wie reines Gold schimmernden Spitzen aus Metall verziert. Von kunstvoll gedrechselten Pfählen getragen, erhob sich in der Mitte des Rumpfes ein großer, in den prachtvollsten Farben leuchtender Baldachin, unter dem ein mehr als mannslanger schwarzer Block ruhte, auf dessen Oberseite die Umrisse einer bizarren Gestalt eingraviert waren.
    Es war ein Sarkophag. Was da vor ihnen auf dem Wasser lag, war eine ägyptische Totenbarke.
    Mogens verspürte ein heftiges Erschauern von Ehrfurcht, als ihm klar wurde, dass er vielleicht seit Tausenden von Jahren der erste Mensch war, der ein solches Gebilde mit eigenen Augen erblickte, keine Abbildung in einem Buch, keine spielzeuggroße Kopie in der Vitrine eines Museums, sondern das Original , das

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