Anubis - Roman
Grollen und Rumoren drang aus der Erde herauf, und die Luft war plötzlich so voller Staub, dass jeder Atemzug zur Qual wurde.
Ein Erdbeben! Vielleicht hatte Graves ja Recht gehabt, und die gesamte Tempelanlage versank im Boden, nicht irgendwann, nicht in einem Monat oder einer Woche, und schon gar nicht langsam, sondern jetzt , in diesem Augenblick!
Die schiere Todesangst verlieh ihm die Kraft, trotz der pochenden Schmerzen in seinem Fuß aufzuspringen und loszuhumpeln. Der Boden zitterte so heftig, dass er fast sofort wieder gestürzt wäre. Er wagte es nicht, sich zu Graves umzudrehen, schrie aber aus Leibeskräften: »Jonathan! Ein Erdbeben! Lauf!«
Er bezweifelte, dass Graves ihn hörte. Das Rumpeln und Dröhnen hatte sich mittlerweile zu einem infernalischen Getöse gesteigert, das jeden anderen Laut übertönte. Der Boden zitterte immer noch heftiger, und in die dumpfen, in immer rascherer Abfolge ertönenden Hammerschläge mischte sich jetzt ein neuer, noch viel unheimlicherer Laut: ein schweres Knirschen und Mahlen, das direkt aus dem Boden zu dringen schien, als baue sich tief im Leib der Erde eine gewaltige Spannung auf, unter der irgendetwas zerbrechen musste.
»Jonathan!«, brüllte er verzweifelt. »Lauf!«
Wieder stürzte etwas in seiner unmittelbaren Nähe zu Boden und zerbarst; diesmal verletzten ihn die Splitter nicht, aber der Hagel kleiner, gefährlicher Geschosse machte ihm endgültig klar, in welcher Gefahr er sich befand. Aus den Augenwinkeln glaubte er zu sehen, wie sich einer der gewaltigen Stützpfeiler, die die Decke trugen, zu neigen begann, und das Knirschen und Mahlen wurde lauter. Etwas traf seine Schulter, und nur einen Sekundenbruchteil darauf schrammte eineunsichtbare Kralle über seinen Rücken und hinterließ eine Spur aus loderndem Schmerz. Der Boden, über den er stolperte, zitterte mittlerweile nicht mehr, sondern hob und senkte sich wie der Rücken eines wütenden Bullen, der seinen Reiter abzuwerfen versuchte.
Mogens fiel mehrmals auf die Knie, und mehr als einmal entging er nur um Haaresbreite einem stürzenden Quader, der sich aus der Decke löste. Dennoch taumelte er mit zusammengebissenen Zähnen weiter. Der Ausgang lag jetzt unmittelbar vor ihm. Das Beben und der Regen aus zerbrochenem Stein hatten die Flammen des brennenden Petroleums ebenso verschlungen wie Graves’ Sturmlaterne, sodass der Raum in vollkommene Dunkelheit gehüllt war, aber die elektrischen Lampen, die Tom draußen im Gang installiert hatte, brannten wie durch ein Wunder immer noch. Mogens stolperte hustend und halb blind vor Schmerz und Furcht weiter, tief in sich davon überzeugt, dass es nur die Absicht eines grausamen Schicksals sein konnte, ihm bis zum allerletzten Moment die Hoffnung zu lassen, dass er den rettenden Ausgang vielleicht doch noch erreichte, nur um ihn dann im Augenblick des vermeintlichen Triumphs zu zerschmettern.
Aber das Schicksal hatte ein Einsehen. Hinter ihm nahm das Grollen und Dröhnen immer noch mehr zu, als bräche der gesamte Raum zusammen, und er wurde noch zweimal von fallenden Steinen getroffen. Doch er erreichte den rettenden Ausgang, ohne zerschmettert oder von einem jäh aufklaffenden Abgrund im Boden verschlungen zu werden. Schlitternd und kriechend überwand er den meterhohen Schuttberg und bedankte sich in Gedanken bei Tom dafür, dass dieser das Hindernis in den letzten beiden Tagen abgetragen hatte. Hätte die Barriere noch bis unter die Decke gereicht, hätte er kaum den Mut gehabt, sich durch den schmalen Spalt zu quetschen.
Erst, als er sich unmittelbar unter der brennenden Glühlampe befand, blieb er schwer atmend stehen und wandte sich um. Er konnte den Trümmerhaufen überblicken, den er gerade überwunden hatte, doch alles, was auch nur einen halben Schritt dahinter lag, schien einfach aufgehört zu habenzu existieren. Mogens sah nichts außer einem brodelnden Chaos aus reiner Bewegung, das Staub und kleine Steinsplitter ausspie. Es erschien ihm selbst fast absurd, dass er aus dieser Hölle entkommen sein sollte. Graves war verloren, daran bestand kein Zweifel.
Und vielleicht war er es auch, und die verzweifelte Hoffnung, an die er sich klammerte, war nur eine weitere Grausamkeit des Schicksals.
Noch war er keineswegs in Sicherheit. Auch hier zitterten und bebten die Wände. Zwar hielt die Decke bislang den gewaltigen Erschütterungen stand, aber Mogens glaubte nun auch hier draußen jenes furchtbare Mahlen und Ächzen zu hören, das den
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