Anubis - Wächter im Totenreich
nicht anerkannt wurde. Er wird von der Sonne geliebt, und man kann ihn als einen Sprößling der Götter bezeichnen. Dargestellt wird er oft mit dem Kopf eines Falken, denn sein Auge wacht stets über Dinge, die in der Welt geschehen. Er ist das Gegenteil seines Onkels Seth, den man als das Böse schlechthin bezeichnen kann. Ich würde diesen sogar mit dem Teufel gleichsetzen.«
»Dann hat Horus also etwas gesehen«, fuhr ich fort.
»Alles deutet darauf hin.« Der Professor schluckte. »Aber sagen Sie, woher haben Sie das Kreuz?«
Das war ich schon sehr oft gefragt worden, und ich wich einer Antwort stets aus. Hier machte ich keine Ausnahme. »Das ist eine lange Geschichte, wissen Sie.«
»Wollen Sie sie nicht erzählen?«
»Nein, lassen Sie mal!«
»Dennoch, dieses Kreuz ist faszinierend.« Er schüttelte den Kopf. »Wie es jemand geschafft hat, zahlreiche Mythologien unter einen Hut zu bekommen, wunderbar.«
»Sie kennen sich aus«, stellte ich fest.
»Zwangsläufig, wissen Sie. Da geht oft das eine in das andere über.«
Der Professor trank einen Schluck. »Wenn Sie so forschen wie ich, reicht ein Menschenleben nicht. Es ist viel zu kurz, ich müßte normalerweise doppelt so alt werden. Das Gebiet ist so vielfältig, die Aufgaben sind so interessant, Sie finden immer wieder etwas Neues. Zum Beispiel…«
»Die Totenbarke.« Ich brachte ihn wieder auf den Boden der Tatsachen, bevor er sich noch zu sehr in Fahrt redete.
Er fing den Ball auf. »Die, zum Beispiel. Wo finden Sie noch etwas so Schönes?«
»Hat diese Totenbarke nicht Ähnlichkeit mit den italienischen Gondeln?« fragte Suko.
»Ja, einiges deutet daraufhin«, erwiderte der Professor. »Das kann ich nicht leugnen.«
Ich ergriff wieder das Wort. »Wobei sich uns die Frage stellt, wie die Totenbarke das Grab verlassen und über den Nil schwimmen konnte. Etwas anderes ist doch unwichtig.«
Barkley nickte betrübt. »Daran gebe ich mir die Schuld.«
»Weil Sie das Grab aufgebrochen haben.«
»Richtig.«
»Aber so etwas passiert nicht bei allen Gräbern. Überlegen Sie mal, wie viele Gräber schon augebrochen wurden! Das geht ja in die Tausende.«
»Da gebe ich Ihnen recht, Mr. Sinclair.« Barkley beugte sich vor. Sein Kopf geriet in den Restschein einer Lampe, und die Stirn wurde mit einem roten Muster bemalt. »Aber nicht alle Gräber sind magisch gesichert oder einem Gott geweiht.«
»Dann haben Sie ein magisches Siegel zerbrochen«, stellte ich fest.
»So kann man es nennen.«
»Alte Flüche«, murmelte Suko. »Wir oft sind sieschon wirksam geworden? Man braucht ja nur die Reihe der Entdecker und Archäologen durchzugehen, dann kannst du eine Liste aufstellen. Die Schwingen des Todes haben viele erwischt.«
»So direkt und kraß wie hier war es aber nie«, gab ich zu bedenken.
»Oder sehr selten.«
»Ob sie weitergefahren ist?« murmelte der Professor.
»Glauben Sie, daß die Barke ein Ziel hat?«
»Ja, Suko. Das Totenschiff wird nicht so einfach über den Nil geistern. Es muß irgendwohin.«
Ich drehte das Glas zwischen beiden Händen. »Unter Umständen hat es sein Ziel schon erreicht.«
Der Professor erschrak. »Wie meinen Sie das?«
»Wie ich es sagte. Vielleicht waren wir, also unser Schiff, das Ziel der Barke.«
»Dann müßte sie ja hier sein.«
»Möglich.«
»Aber unsichtbar«, sagte Suko.
»Das Wort feinstofflich gefällt mir besser«, hielt ich entgegen.
Barkley lachte. »Ich kann es mir nicht vorstellen.« Er vollführte eine kreisende Handbewegung. »Schauen Sie sich diese Leute doch hier an, Mr. Sinclair. Sie sind normal. Nichts weist darauf hin, daß man sie beeinflußt hat.«
»Noch nicht.«
»Dann rechnen Sie mit einer Veränderung?«
Ich hob die Schultern.
»Das ist mir alles zu vage«, erklärte der Professor. Er rutschte vom Barhocker. »Jedenfalls schaue ich mich einmal oben auf dem Oberdeck um. Vielleicht bekomme ich da mehr Informationen.«
»Tun Sie das.«
Wir schauten ihm nach. Sehr gesprächig waren Suko und ich nicht. Was sollten wir auch sagen? Wir waren mit einem Phänomen konfrontiert worden, das keiner von uns richtig erfassen konnte. James Barkley drängte sich an den tanzenden und im Wege stehenden Leuten vorbei. Er schüttelte mehrmals den Kopf und redete auch mit sich selbst. Für ihn gab es sehr viele Rätsel, die er einfach aufklären mußte, und er nahm wieder den breiten Aufgang, der zum Oberdeck führte. Leider hatte er auf diesem Schiff nichts zu sagen, denn er hätte gern
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