Apartment 16 - Nevill, A: Apartment 16 - Apartment 16
unsichtbaren Fäden, an denen von oben gezogen wurde. Er schien sich seit Tagen nicht mehr rasiert zu haben.
Als er anfing, über »Max Ferdinand Sebaldt von Werths fünfbändiges Werk Genesis, eine rassistische Abhandlung über Erotizismus, Bacchanale, Sexologie und Libido « zu sprechen, verlor sie schnell den Faden, ihre Gedanken wanderten hin und her, folgten gelegentlich dem Vortrag, schweiften wieder ab, und sie begann seine Ideen über Hessen mit dem zu vergleichen, was in Miles’ Buch stand.
Sie hatte schon gelesen, dass der junge Hessen in den Bann des Wotan-Kults und anderer heidnischer Vorstellungen wie auch von deutschen und österreichischen Endzeit-Vorstellungen des 19. Jahrhunderts geraten war. Es handelte sich hierbei um mystisch verbrämte rassistische Ideen, die das deutsche Nationalbewusstsein zwischen den beiden Weltkriegen mitgeprägt hatten. Hessen schien sich mit der gleichen Leidenschaft damit beschäftigt zu haben wie heutige Jugendliche mit Rockmusik oder Rap. Aber Miles hatte sich gefragt, was diese Gedanken mit Hessens Leichenstudien, mit seinen grotesken primitiven Zeichnungen von Tiermenschen und dem grauenhaften Puppen-Triptychon aus den Dreißigerjahren zu tun gehabt hatten. Seine Faszination musste zweifellos mit seinem Medizinstudium zusammenhängen.
Herndl hingegen legte Wert auf die Feststellung, dass seine Zeichnungen als »Reaktion eines Angehörigen des Bürgertums auf die Industrialisierung Europas« zu verstehen seien. Sie zeigten, so behauptete er, seine vorausschauende Beschreibung der herdenartigen Passivität des Menschen in den Städten und des Verlusts von Kontrolle und Willen, »wie wir es heute überall um uns herum beobachten können«.
Das widersprach eindeutig dem, was Miles geschrieben hatte. Seiner Ansicht nach bezog Hessen sich letzten Endes auf sein in der Jugend wachgerufenes Interesse an abseitigen und seltenen Volkstümeleien, und er interpretierte dies als Flucht eines jungen Außenseiters aus dem Mainstream der ihn umgebenden Kultur. In diesem Sinne sei auch seine Beschäftigung mit dem Orient, mit Hypnose und dem Faschismus zu betrachten. Dies alles war ein Teil seiner Abkehr und Entfremdung vom Status quo und jener zerstörerischen Kraft, die jede Form wahrer Kreativität erstickte. Miles hatte außerdem darauf hingewiesen, dass Hessens Zeichnungen überhaupt nichts mit faschistischer Ästhetik oder arischer Volkskunst zu tun hatten. Irgendwelche idealistischen oder folkloristischen Elemente waren in seiner Kunst nicht zu finden. Sie war viel mehr das Produkt einer tief gehenden, brillanten Vorstellungskraft. Oder von dem, was er irgendwo im Zwielicht wahrzunehmen glaubte oder beim Blick aus seinem schmierigen Fenster in einem verlassenen Keller entdeckt hatte.
Miles Butler glaubte, dass Hessen nach seinem Berlinbesuch wegen der Ablehnung durch die Nazis und deren Abkehr von ihrem nationalistischen Okkultismus extrem enttäuscht war. Er hatte sich so sehr in diese eine Subkultur eingegraben, dass er von der banalen Wirklichkeit nur unendlich enttäuscht sein konnte. Hessen hatte den Antisemitismus nie verstanden, und viele Artikel in Vortex bezogen sich eindeutig auf die jüdische Mystik.
Sein Scheitern in Deutschland und seine anschließende Inhaftierung brachten ihn dazu, sich von der Gesellschaft und ihren Ideen und Zielen zu verabschieden. Aber bevor der Gefängnisaufenthalt es unmöglich machte, schien Hessen sich bis zum Jahr 1938 intensiv mit Experimenten beschäftigt zu haben, die als Vorbereitungen für seine Arbeit am Vortex dienten. Der Vortex war die Quelle seiner Inspiration und verfolgte ihn bis in seine Albträume, seine depressiven Anfälle und ließ ihn verzweifeln. In der vierten Ausgabe seiner Zeitschrift gab es einen Artikel mit der Überschrift »Eine Welt hinter dieser Welt«, in dem Hessen dies als »die Gesellschaft der Tragödie« bezeichnete.
Apryl verfügte über ausreichend Wissen, um Otto Herndl zu widerlegen. Das bedeutete, stellte sie zu ihrem großen Schrecken fest, dass sie eigentlich schon viel zu viel über den Mann wusste, der ihre Großtante in den Bann geschlagen hatte. Allmählich wurde die Beschäftigung mit diesem Künstler für sie zu einer Art Zwangsneurose. Sie konnte sogar zitieren, was Hessen über den Vortex geschrieben hatte, weil es so unangenehm gut zu dem passte, was Lillian in ihre Tagebücher geschrieben hatte.
Ich will mein Gesicht hineintauchen. Jetzt und immer wieder. Und malen, was ich dort
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