Apartment 16 - Nevill, A: Apartment 16 - Apartment 16
werden. Er konnte nur vermuten, woher das alles kam, aber er hatte keinen Einfluss auf das grauenhafte Geschehen. Es gab Menschen hier, die jetzt sterben sollten. Alte Menschen. Vielleicht sogar viele. Erbärmliche Kreaturen, die irgendwann einmal diesem Ding in Apartment sechzehn Schaden zugefügt hatten.
Unmöglich. Einfach absurd. Aber es geschah und zwar genau jetzt.
Er rutschte in seinem Ledersessel umher und lief immer wieder unruhig in der Eingangshalle auf und ab.
Um elf Uhr nachts hatte er bereits 12,5 Gramm von seinem Tabak geraucht: Drum Yellow. Er war viel zu aufgedreht, um zu gähnen, starrte die Sicherheitsmonitore an, deren grünliche Bilder sich nie veränderten. Er zeichnete nichts. Sein Bedürfnis die Welt in Rot, Ocker und Schwarz neu zu erfinden war verschwunden. Er wusste jetzt, dass diese Visionen einen hohen Preis verlangten. Sein neu gefundenes Talent besaß er nur, weil er mit einer Macht in diesem Gebäude zusammenarbeitete. Einer Kraft, die verhinderte, dass er die Stadt verließ.
Großer Gott.
Warum hatte er nur so lange gewartet, bis er keine Kontrolle mehr über alles hatte? Weder seine Träume noch seine Handlungen, noch seine Bewegungen konnte er selbst bestimmen. Und heute Abend war er hierher zurückgeholt worden. Er musste anwesend sein, er hatte keine andere Wahl, wenn er nicht seine neu gewonnene Gesundheit aufs Spiel setzen wollte. Tatsächlich waren Magenkrämpfe, Unwohlsein und Schwindelgefühle vollständig verschwunden.
Waren sie überhaupt je da gewesen? Ja, und er hatte Angst davor, sie könnten wiederkommen. Er würde alles tun, um sich nicht mehr so elend zu fühlen. Seth legte das Gesicht in seine Hände und verschloss die Augen vor diesem ganzen absurden Geschehen. Und vor dem, was er getan hatte.
Die Stunden glitten unbemerkt vorüber. Aus 18.30 Uhr wurde Mitternacht. Aber wo war der Wachhund? Der mit der Kapuze, der in seine Träume einzudringen vermochte und der ihm aus eigenem Antrieb durch die Straßen von London gefolgt war und in den Korridoren des Barrington House hinterherlief? Vielleicht war der Junge ja jetzt hier irgendwo und beobachtete ihn. Vielleicht konnte er sogar seine Gedanken lesen und war über all seine Absichten genauestens informiert.
Oder Seth war einfach nur schizophren und halluzinierte? Niemand sonst konnte die Gestalt mit der Kapuze sehen. Und Mrs. Roth war viel zu geschwächt gewesen, um irgendwas in diesem dunklen Apartment erkennen zu können, das in seinen Augen rot erleuchtet gewesen war. Er sah die Stadt auf eine Art, zu der andere nicht in der Lage waren. Sie waren blind dafür. Vielleicht war das so bei Menschen, die getötet hatten. Vielleicht hörten sie Stimmen in ihren Köpfen und gehorchten Befehlen, die sie bekamen, wenn sie Visionen von den Toten hatten. Vielleicht war es einfach an der Zeit aufzugeben. Sich der Polizei zu stellen. Wie machte man das? Sie mussten zu ihm kommen. Er selbst würde beim Versuch, zu ihnen zu gehen, zweifellos krank werden. Er wäre längst erledigt und zusammengebrochen, ehe er einem Polizisten oder Arzt klarmachen konnte, wovon er besessen war und was ihm die Lebenskraft aussaugte. Wie sollte man das überhaupt erklären?
Ein schrecklicher Schauer jagte durch seinen Körper. Seine Kehle wurde trocken. Er rieb sich das Gesicht und versuchte, nicht in Tränen auszubrechen. »Um Himmels willen!« Es gab keine Grenze mehr zwischen Schlafen und Wachen. Keine Trennung von Wirklichkeit und irrealer Welt. Alles war das Gleiche. Vermischte sich. In ihm und um ihn herum.
»Komm schon, Seth. Da find’n Treffen statt, wo du hinsollst.« Die Stimme des Jungen mit der Kapuze weckte ihn um zwei Uhr. Er roch Schwefel wie bei einem Feuerwerk, die kalte winterliche Straße, billige Kleidung und verschmortes Fleisch.
Der Mantel des Jungen raschelte, als er sich umdrehte und vom Rezeptionspult fortging. Wie lange hatte er da gestanden und ihn angeschaut? Das Ding mit der Kapuze ging auf die Aufzugtüren zu und wartete dort auf Seth, die Hände in den Taschen des Parkas. »Mach kein’ Quatsch, Seth. Bring die Schlüssel mit.«
»Geh weiter, Seth. Sie is’ jetz’ dort. Da, wo sie hingehört. Da unten zusamm’n mit den ander’n.«
Er hob seine zittrigen Hände, um die Augen zu bedecken, und spürte, wie seine weichen Knie nachgaben.
Dort, am Ende des Flurs, hing Mrs. Roth. Gemalt in leuchtenden Ölfarben. Als er sie erkannte, traf es ihn wie ein Schlag. Das Ticken seiner Uhr schien innezuhalten, sein
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